Buch 1 der Trilogie „Die sieben Kugeln・
Inhalt
Vorspiel
Die Hornissen
Todeserwachen
Ein stichhaltiger Beweis
Die Hellersdorfer Blockade
Eine abwechslungsreiche Unterrichtsstunde
Ein Umzug zu viel
Gitarrenzauber
Zwillinge im Doppelpack
Die Schlacht
...dann waren・Ls nur noch fünf
Der zweite freie Kristall
Eine Eingebung
Ein Hurra
Kein Hurra
Ein Banktermin
Unverhoffte Pause
Todesmut im Blitzlichtgewitter
Nordwärts
Abschied
Vorspiel
Mein Name ist Marie Kutasi, geboren vor etwa 26 Erdenjahren. Ich gebe zu, ich bin befangen. Am Verlauf der Ereignisse war ich ja selbst beteiligt, an seinem Ergebnis mitschuldig. Wenn ich in einigen Augenblicken anders reagiert hätte, wäre vieles anders gekommen. Aber was bringt alles Wenn und Wäre? Ich wollte nur sagen, dass ich nichts absichtlich beschönigt habe, um nachher in besserem Licht da zu stehen, aber vielleicht konnte ich das trotzdem nicht verhindern. Ich erzähl einfach so wie ich es verstanden habe. Sollte mich jemand dabei erwischen, dass etwas falsch zusammengereimt ist, kann ich nur sagen, Pech für ihn. Hätte er doch selber alles aufgeschrieben. Wem ich posthum auf den Schlips trete, der entschuldigt hoffentlich, wenn er zu schlecht wegkommt ・ aber was kann ich dafür, wenn ich ihn nicht befragen kann?
Angefangen hatte alles lange vor meiner Geburt. Weiter als bis zu Jens・L Kinderzeit gehe ich nicht zurück. Dass die seltsamen Kugeln schon vorher mit Menschen in Berührung gekommen sind, habe ich nicht erfahren. Sollte das der Fall sein, ist ein solcher Zusammenstoß auf jeden Fall ohne Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit geblieben, und das ist letztlich das, was zählt.
Also Jens, der wurde auf der Halbinsel Näswerder geboren. An deren Spitze hatte zu Zeiten einer blühenden DDR, ein Stadion entstehen sollen. Man hatte es nicht nur geplant, man hatte sogar schon mit den Bauarbeiten begonnen. Schon damals hätte die Katastrophe also ihren Lauf nehmen können, oder eben nicht. Es wäre wahrscheinlich besser für die Menschheit ausgegangen. Aber mitten beim Bauen scheiterte die Idee sozialistischen Freizeitsports am Grundwasser. Das wehrte sich nämlich gegen die Buddelei. So verwilderte alles wieder und im Boden blieb unentdeckt, was dort nicht hingehörte. Die Menschen aus der Stadt errichteten weiter südlich das Neubaugebiet Großer Trooch. Eine autobahnähnliche Straße verband es mit den Bürgerhäusern des Stadtzentrums ・c unmittelbar an Näswerder vorbei. Auf die Halbinsel kam man nun nur noch über Brücken. So schnitt die Straßen die Entwicklung Näswerders vom restlichen Mecklenburg ab, was umso schrecklicher war, da eben dieses Mecklenburg sowieso schon mindestens fünfzig Jahre hinter der normalen Welt an jedem Boxenstopp ankam. Die Leute wollten das auch nicht anders. Sie duldeten alte bäuerliche Katen neben modernen Häusern im nachgemachten Friesenstil und welchen ohne jeden Stil ・ Hauptsache man ließ sie in Ruhe.
Die Zeiten änderten sich trotzdem. Irgendwann wollten sogar Leute, denen man schon von fern das Fremdsein ansah, richtige Näswerderaner werden. Einer von ihnen war eben der Vater von Rahman. Seine Frau, einst auf Näswerder geboren, hatte ihm sogar beigebracht Da brögsst nich zu sstammeln und solche Sachen zu sagen ・ und er gab sich auch sonst große Mühe, wie ein Einheimischer zu erscheinen. Zum Beispiel hatte er seinen eigenen Traditionen zum Trotz den Familiennamen seiner Frau angenommen. Parchmann. Letztlich half es ihm nicht. Er blieb ein Fremder. Den gemeinsamen Sohn traf das am härtesten. Ihn hatten die beiden aus der burmesischen Heimat seines Vaters mitgebracht. Weder konnten sie ihm sein Aussehen noch den fremd klingenden Vornamen Rahman wegnehmen. Das wäre aber das Mindeste gewesen, um in der neuen Schule dazuzugehören.
Die Kinder waren nämlich noch ein bisschen krasser als ihre Eltern, und sie hatten ihr eigenes Problem. Ihre Zahl auf Näswerder hatte schon vor langer Zeit nicht mehr für eine eigene Schule ausgereicht. Ein fernes Amt entschied, dass es in der Brechtschule auf dem Neubau-Trooch genug Platz für sie gäbe. Also wurden die wenigen Näswerder-Kinder auf die dortigen Klassen verteilt. Vielleicht führten sich die damaligen Dorfkinder während ihrer ersten Tage an der neuen Schule wirklich komisch auf. Kann ja sein. Wer konnte das später noch überprüfen? Sicher war nur, dass die Troocher endlich jemanden gefunden hatten, an dem sie sich tagtäglich austoben konnten, Außenseiter zum Hänseln und Prügeln, wann immer ihnen danach war・c
Zu der Zeit, als die Parchmanns sich ansiedelten und ahnungslos ihren Rahman in die Brechtschule einschulten, war es für die Kinder des Troochs feste Gewohnheit ・ um nicht Tradition zu sagen, fast täglich ein paar Näswerderaner zu verprügeln. Jens, der den längsten Weg bis zur Straßenbahnstation Näswerder laufen musste, hatte sich deswegen zu Hause beschwert. Warum traf das immer dieselben? Er war bei seinem Vater auf wenig Verständnis gestoßen. „Was du nur willst? Bei uns war das damals genauso. Ist aus mir ein richtiger Mann geworden? Ja oder ja? Du bist nun einmal ein echter Näswerderaner. Also benimm dich auch so. Schon dein Großvater hat sich gegen die Troocher wehren müssen, später ich, jetzt du. Das Verlieren ist schlimm, ich weiß. Aber es hat auch Vorteile: Ihr lernt zusammenzuhalten. Lasst euch nicht unterkriegen, kämpft! Verliert ihr hundert Mal ・c das hunderterste Mal, das erste Mal, wo ihr gewinnt, das ist das entscheidende. Danach ist Ruhe, glaub mir.・
Was sollte Jens machen? Er sammelte die Näswerderaner Tag für Tag zu heroischen Abwehrschlachten. Aber selbst zusammen mit den Mädchen konnten sie ihre zahlenmäßige Unterlegenheit nicht überbrücken. Immer wieder landeten sie im Dreck. Wie oft hoffte Jens, die hundert zu verlierenden Gefechte endlich hinter sich zu haben, aber es ging immer weiter.
Da tauchte jener Rahman auf. Nein, ein Näswerderaner konnte der nicht sein. Der war anders. Der gehörte nicht dazu. Der gehörte nirgendwo dazu. Der war ein Fremder unter ihnen. So, wie sie Fremde auf dem Trooch waren, und das, obwohl er ihr Schicksal in der Brecht-Schule teilte.
Aber auch Rahman war stur. Er ließ sich verprügeln, ohne einen Laut von sich zu geben. Bis er es eines Nachmittags dann doch nicht mehr aushielt. Warum sollte er nicht zu ihnen gehören, zu diesen tollen Näsies? Noch dazu, wo er glaubte, etwas zu besitzen, was für die anderen interessant sein müsste?
Er stieg also wie immer zusammen mit den sechs etwa gleich alten Näswerderkindern aus dem Schulbus aus, trennte sich dann aber an jenem schicksalhaften Tag nicht sofort von ihnen, sondern rief: „Wartet doch mal!・
Drei Jungen und drei Mädchen sahen sich abwartend um. Mit ernstem, beinahe feierlichem Gesicht erklärte Rahman: „Ich hab was Tolles gefunden. Wenn ihr wollt, dann zeige ich euch Wundersteine, die ich auf unserer Baustelle entdeckt habe.・
Das war zu viel! „Wundersteine, son Quatsch!・ Jens tippte sich an die Stirn, „Du denkst wohl, hier ist der Kindergarten?・
„Du brauchst ja nicht mitzukommen・, verteidigte sich Rahman trotzig. „Aber wetten: Wenn du die erlebt hast, hebst du voll ab. Ganz starke Dinger, sag ich dir. Die musst du einfach gesehen haben. Ehrlich!・
„Du nervst, Junge.・ Hagen musterte ihn voll Verachtung. „Wenn du uns verarschst, dann wirst sehen: Die nächste Woche kannst du nicht ohne Kissen auf ・Lm Stuhl sitzen.・
„Auf einmal Arschvoll mehr oder weniger kommt・Ls nun auch nicht mehr an. Krieg ich sowieso alle Tage・, antwortete Rahman, und zumindest mit der letzten Behauptung hatte er Recht.
„Du nimmst den Mund ziemlich voll.・ Hardy war einen Schritt näher gekommen.
„Ich beweise es euch. Kommt heute um sieben zu meiner Hütte. Ihr werdet staunen.・
Die Chance, etwas Bestaunenswertes zu erleben, konnte sich ein echter Näsie natürlich nicht entgehen lassen. Als es Abend wurde, schlichen die sechs also zu dem katenähnlichen Neubau der Parchmanns. Es dämmerte. Die Silhouetten der Häuser verwandelten sich in Scherenschnitte. Vom Abendwind wurde der faulige Geruch alter Komposthaufen zum Anger getrieben. Irgendwo kläfften wütende Köter. Gelegentlich tauchte ein Schatten über den Bürgersteigen der Dorfstraße auf, verschwand aber sofort wieder. Mit einem Wort: Ein wenig Gänsehaut hatten die jungen Helden schon, bevor es überhaupt losging.
Rahman erwartete sie an der Pforte zum Vorgarten. Er winkte, drückte den rechten Zeigefinger auf den Mund und sah sich unsicher um. „Ist euch auch niemand gefolgt? Ihr habt doch keinem verraten, wo ihr hin seid? Das darf nicht rauskommen.・
„Spinner! Mach dir nich ins Hemd wegen deinem Hokuspokus.・ Hagen schüttelte den Kopf.
Hinten im Garten, in einer unauffälligen Ecke des Grundstücks stand Rahmans Hütte, wahrscheinlich ein früherer Geräteschuppen. Die übrigen Kinder waren verunsichert. Auf Parchmanns Grundstück waren sie noch nie gewesen ・c und man konnte ja nicht wissen ...
Endlich hatten sich alle in die Hütte gedrängt. Jens, als Anführer, setzte sich als erster. Schließlich musste er zeigen, dass wenigstens er keine Angst hatte. Petra, die klügste in der Schule und auch sonst ehrgeizigste der Gruppe, quetschte sich neben ihn und Sonja, das einzige Mädchen, das früher oft, aber natürlich vergeblich, versucht hatte, die Jungen von ihren Prügeleien abzubringen. Dann kam Hardy, der sich eigentlich langweilte, weil ihn nur Geschichte interessierte, genauer, nur die Zeit der Königreiche und früher, Hagen, der brummte „Na, da bin ich aber gespannt・, um sich Mut zu machen und den anderen zu zeigen, dass er welchen hatte, und die kleine blonde Lisa, die heimlich hoffte, Rahman möge sie endlich zur Kenntnis nehmen. Als letzter betrat Rahman sein Reich, in der Hand eine Kugel. Er konnte sie mit seinen Fingern etwa zu einem Drittel umfassen. Sie hatte ungefähr zehn Zentimeter Durchmesser. So schätzten die anderen, und waren etwas enttäuscht. Das angekündigte Wunderding war absolut unscheinbar und grau, sofern die Farbe im Dämmerlicht überhaupt festzustellen war. Nein. Obwohl Rahman sie hochhielt, fiel keinem etwas Bemerkenswertes an ihr auf.
„Wunderkugeln sehen bestimmt anders aus.・ Damit sprach Hagen nur laut aus, was eigentlich alle dachten.
„Na, dann nimm mal!・ wandte sich Rahman an Lisa.
„Uff!・ rief das Mädchen überrascht, nachdem sie die Kugel aufgefangen hatte. „Ist die leicht! Mit der bekäm sogar ich im Kugelstoßen ・Lne Eins. Ein Ball aus Stein. Hohl?・
Rahman zuckte mit den Achseln und Lisa reichte die Kugel weiter. Alle wogen sie in den Händen, strichen über ihre Oberfläche und stimmten Lisa zu. „Ein Stein ist es nicht・, sagte Sonja, „aber was dann?・
Hagen brummte unwillig. „Okay, etwas sonderbar ist das Ding. Aber ein Wunder?・
Rahman war mit der Reaktion der anderen zufrieden. Er verschwand kurz und kam mit fünf weiteren Kugeln zurück. „So, jetzt könnt ihr vergleichen!・ Lisa betastete eine zweite Kugel, warf sie leicht hoch, fing sie auf und meinte: „Die ist genauso.・
„Und der Rest?・ Rahman wartete ab, bis Hagen als letzter der Gruppe alle Kugeln miteinander verglichen hatte. Es gab keinen Zweifel. Alle sechs waren identisch. Dieselbe graue Farbe, die glatte Oberfläche und das geringe Gewicht ・ mehr Eigenschaften ließen sich allerdings beim besten Willen nicht feststellen.
„Das werden wir gleich haben!・ Petra nahm Sonjas Kugel in die linke Hand und klopfte sie gegen ihre eigene. Ein dumpfer Ton, kein Nachhall. „Hm: Hohl klingt anders, glaub ich・, stellte Petra nachdenklich fest. Was hätte sie sonst feststellen können?
Nun schlugen auch die anderen ihre Kugeln aneinander. Immer derselbe dumpfe Ton. „Wenn ich・Ls doch sage・, murrte Petra. Warum glaubten die anderen ihr nicht? Dann mutmaßte sie: „Vielleicht ist was Flüssiges drin?・
„In einem Stein・c Erzähl das deiner Oma!・ Hardy tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Unbemerkt war Rahman noch einmal nach draußen gegangen. Als er wieder in der Tür auftauchte, mühte er sich vorwärts wie ein alter Mann, dem die Last den Rücken gekrümmt hatte. Hardy und Hagen lachten. Es sah einfach zu komisch aus. Rahman presste seine Kugel mit beiden Händen an die Brust. Trotzdem konnte er sie anscheinend nicht halten. Er ließ sie fallen und sie schlug vor seinen Fußspitzen auf den Boden.
„Sehr witzig! So was Schweres haben wir noch nie gesehen.・ Hagen lachte und griff lässig mit seiner Linken nach der Kugel. Pech für ihn. Nicht nur, dass sich die Kugel am Boden kaum bewegte, Hagen fiel auch noch seine eigene aus der Hand. Wie von einer magischen Kraft angezogen rollte sie auf die schwere zu und blieb fest an ihr haften.
„Lasst die anderen ruhig auch los!・ forderte Rahman.
Kaum am Boden, kullerten die übrigen Kugeln zu der schweren und dann hafteten sie fest an ihrem neuen Mittelpunkt. Eine Art Kugelmodell war entstanden.
„Von wegen Wunderkugeln ・c Wahrscheinlich ist ein Magnet drin!・ Enttäuscht zog Petra die Schultern hoch.
„Kann sein. Vielleicht so etwas Ähnliches・, antwortete Rahman, „aber was es wirklich ist, weiß ich noch nicht. Die leichten Kugeln zieh・Ln einander nämlich nicht an.・ Das hatten die anderen Kinder bald selbst ausprobiert. Ähnlich wie bei Magneten war es ihnen erst schwer gefallen, die Kugeln von der schweren zu lösen. Mit wachsendem Abstand ließ die Anziehungskraft aber schnell wieder nach.
„Wo hast du die denn her?・ fragte Lisa.
„Hab ich doch schon gesagt. Ausgebuddelt beim Bauen auf unserem Grundstück.・
„Wie Steine?・ Hagen sah abwechselnd mal zu den Kugeln, mal zu ihrem Besitzer.
„Was soll die Frage? Wie Steine?! Dass das keine sind, merkt man ja wohl, oder?・
„Ob die irgend wofür gut gewesen sind? Einfach nur so haben sie bestimmt nicht in der Erde gelegen ...・ Lisa guckte etwas verträumt auf den Jungen, dessen Gesichtszüge fast ganz vom Schatten des blauschwarzen Haares verborgen wurden.
„Ist doch klar. Die lagen schon lange dort. Vielleicht Kanonenkugeln aus Wallensteins Zeit.・ Hardy sprang auf. Fast wäre er mit dem Kopf an die Decke der Hütte gestoßen. Die anderen lachten.
„Du immer mit deinem Wallenstein!・ Hagen winkte stöhnend ab. „Du nervst!・
„Klar: Wallensteins Astrologe hat sie hohl gezaubert. Damit sie extra weit fliegen. Warte, ich hab einen besseren Vorschlag: Die gehörten Münchhausen. Der ist drauf geritten.・ Mit einem kräftigen Ruck packte Jens eine der Kugeln und hielt sie sich unter den Hintern. Dazu machte er er ein Geräusch, dass wohl so klingen sollte, als pfiffe ein Kanonenkugel durch die Luft. Alle prusteten los und hielten sich die Bäuche, bis Petra aus heiterem Himmel heraus behauptete: „Nein. Die kommen aus dem Weltall!・.
Sofort verstummten die anderen. Zugestimmt hätte zwar keiner ・ außerirdische Kugeln, das war natürlich auch Quatsch ・ aber faszinierend war der Gedanke schon.
Das war seine Gelegenheit. Rahman rutschte auf seinem Platz hin und her. „Es sind genau sieben ・ so wie wir・, sagte er mit betont feierlicher Stimme. „Jeder von uns könnte also eine behalten. Wenn ihr schweigen könnt. Dass mir niemand was davon erzählt! Vor allem keinem Erwachsenen. Dann wären wir sie wieder los. Bestimmt.・ Alle nickten schweigend. Rahman verteilte die Kugeln. Die leichten zuerst. Lisa gab er zum Schluss die schwere. Er versicherte ihr, dass er sie ihr nach Hause tragen werde. Was für ein Augenblick für das Mädchen! Lisa lächelte glücklich. Nun war es raus: Rahman mochte sie. Mehr als alle anderen.
„So, und jetzt muss jeder schwören・, fuhr Rahman mit seiner Rede fort. „Sprecht mir nach: Wir wollen die Kugeln fürs ganze Leben sicher verwahren und keinem außerhalb unserer Gruppe davon erzählen. Von nun an treffen wir uns hier in jedem Jahr am selben Tag. Diese Kugeln sollen das Zeichen sein für unser Zusammengehören.・
War das feierlich! „Hat jemand was zum Schreiben dabei?・ Wenn Rahman in diesem Moment von jedem einen Blutstropfen verlangt hätte ・ er hätte ihn garantiert bekommen. Selbst Hagen riss sich zusammen. Plötzlich verband sie alle ein durch unheimliche Kugeln, vielleicht sogar außerirdische, besiegelter Bund.
Sie schwiegen einen Moment lang, blieben aber nicht mehr lange in der Hütte versammelt. Jeder nahm seine Kugel und ging.
Tja, so pathetisch hatte es begonnen. Aber schon vor Ablauf des ersten Jahres zog Lisas Mutter zu ihrem neuen Lebenspartner nach Berlin und nahm die heimlich verliebte Elfjährige natürlich mit. Die arme Lisa fühlte sich wie Gepäck. Kurz vor der Abreise betrachtete sie traurig die bis dahin mit vielen Tricks verborgene Kugel. Grübelte lange, bis sie eine Lösung fand, das schwere Symbol ihres Bundes wenigstens heimlich im Gepäck unterzubringen. Lisa hatte sogar daran gedacht, die Kugel Rahman zurückzugeben oder wenigstens zu tauschen. Es waren eigentlich doch alle seine. Aber was hatte er gesagt? „Sie ziehen sich an wie Magnete. So wie wir.・ Lisa hatte ihm dafür einen Kuss gegeben.
Ob es etwas verändert hätte, wenn aus den beiden ein Paar geworden wäre? Wohl kaum. Denn auch die anderen gingen getrennte Wege und mit ihnen ihre Kugeln.
Bald dachten sie nur noch ungern an ihren Bund.Hatte die damalige Szene, diese naive Begeisterung nicht etwas kindlich Naives, ja sogar Komisches? Die war doch richtig peinlich! Als ob es nicht genügt hätte, dass sie ständig wegen ihrer Herkunft verprügelt worden waren! Spätestens mit zwölf, dreizehn fühlten sie sich zu erwachsen für solche Spiele.
Zunächst trafen sie sich noch. Lisa schrieb Rahman wöchentlich einen schmachtenden Brief. Später dann ungefähr monatlich. Dann kam in ihre neue Klasse ein Junge, der ungeheure Ähnlichkeit mit Porty hatte. Ohne ein Porty-Poster kam kein Mädchenzimmer aus und dieser Neue hatte ihre Hand viel länger gehalten, als für einen Gruß nötig. So gab es noch einen Brief an Rahman, um den Termin ihres nächsten Treffens zu verabreden. Das kam dann aber schon nicht mehr zustande.
Die Faszination des kindlichen Schatzes ließ auch bei den Anderen immer mehr nach. Die Näsies wurden inzwischen nicht mehr verprügelt. Offenbar hatte sie aber nur das miteinander verbunden. Rahman, Hardy und Hagen versuchten noch ein paar Mal, dem Geheimnis ihrer Wunderkugeln auf den Grund zu gehen. Wunder konnte es einfach nicht geben. Das lernten sie in Physik. Mit Steinen und Hämmern klopften die Jungen auf ihren Kugeln herum. Hardy lieh sich dafür von seinem Vater einen Körner aus, sie spannten die Kugel im Schraubstock ein ・c Das Einzige was sie erreichten, war, dass der Körner abrutschte und Hagen ein paar Tage humpelnd herumlief. Die Kugeln ließen sich nicht beeindrucken. Selbst wiederholte Flüge gegen die Steine der Kirchenmauer störten sie nicht. Im Gegensatz zu der Mauer hatten die Kugeloberflächen danach nicht einmal einen Kratzer. So etwas hatten die Jungen noch nie erlebt. Sie phantasierten viel, was das wohl bedeuten könnte. Aber das gab sich bald wieder. Die Kugeln fristeten für Jahre ein unbeachtetes Dasein. Sie schienen sich zu nichts mehr zu eignen als zum Symbol einer endlich abgeschlossenen Kinderzeit.
Die Hornissen
Fast zwanzig Jahre vergingen, in denen weder die inzwischen Erwachsenen mit ihren Kugeln noch die Kugeln mit den neuen Erwachsenen etwas anstellten. Richtiger: Die nun Erwachsenen bemerkten es zumindest nicht, wenn die Kugeln etwas mit ihnen anstellten. Das lag vor allem daran, dass sie einander nicht trafen. Also weder die Kugeln, noch die Erwachsenen.
Aus Jens, der die Kinder der Schwurgemeinschaft in so viele Kämpfe geführt hatte, war Kommissar Marder geworden. Mit seiner Halbinsel hatte er nichts mehr zu tun. Möglichst weit weg von Mecklenburg hatte er gewollt. Allzu weit war er allerdings nicht gekommen ・ nur bis Sternekop, einem Dorf in der Nähe von Berlin, und sein Häuschen erinnerte verdächtig an eine der heimatlichen Katen.
Eigentlich war er total glücklich. Schließlich war er schon früher dem Traum nachgejagt, ein großer Detektiv zu werden, knifflige Fälle zu lösen und Verbrecher zu überführen. Das war nun sein Beruf geworden. Also wenn man nicht so genau hinsah. Doch wie stand es tatsächlich um ihn? Für die anderen Kriminalbeamten in Berlin bot er ausreichend Stoff zum Spott. Wenn man irgendetwas an ihm hätte „außergewöhnlich・ nennen können, dann war es höchstens seine Behäbigkeit. Er hatte geheiratet und war kurz darauf Vater von Zwillingen geworden. Seitdem erinnerte nichts mehr daran, dass er einmal eine wehrhafte Kindergruppe angeführt hatte. Nein, niemand stand im Kreis der Kollegen dermaßen „unterm Pantoffel・ wie Jens Marder.
Dann kam jener Freitag. Den ganzen Tag hatte er dem Revier sein die Welt umwälzendes Gesprächsthema aufgezwungen: Der 9. Geburtstag von Sina und Leonie war ein toller Erfolg gewesen. Michelmann ahnte doch nicht, was ihm mit dieser Gartenparty verpasst hatte. Den ganzen Montagvormittag berichtete er über deren Erfolg, während Janine, seine Frau, mit Aufräumen beschäftigt war.
Die beiden Mädchen hatten anfangs sogar beim Hausputz geholfen. Erst in der Mittagshitze zog es sie über einen Trampelpfad hinunter zum Quadder. Der dank der Geräusche beim Näherkommen mit einem treffenden Namen versehene, von allen Seiten zugewachsene Teich lockte einfach zu sehr zum Baden. Er war in Hörweite von Marders Grundstück. Hinter dem Garten der Marders begann ein offenes Stück Ufer, und es gab kaum einen sichereren Platz, an dem sich die Mädchen austoben konnten. Irgendwann unterbrach Janine ihre Putzerei. Sie lauschte kurz auf das Gequiecke der Zwillinge. Dann setzte sie sich in ihren Jeep. Sie hatte noch einiges im Dorf zu klären.
Die Mädchen kamen bald wieder auf den Hof zurück und waren völlig unbeobachtet.
Dies war die Lage, als sich der geplagte Vater in seinem E-Car dem Grundstück näherte. Am Nachmittag hatte noch eine anstrengende Beratung stattgefunden. Nicht, dass dabei irgendetwas herausgekommen wäre. Das hatte er auch nicht erwartet. Jetzt, auf der Heimfahrt, gab Jens mutig die Antworten, die er in Gegenwart der anderen herunter geschluckt hatte. Er ärgerte sich. Und auf der Bundesstraße ärgerte er sich darüber, dass er sich ärgerte. Das gehörte sich nicht. Gleich wäre er bei seiner Familie und sonst gar nichts. Warum sollte er Janine, vor allem aber Sina und Leonie mit seiner Laune quälen? Ob etwas ruhige Musik half? Oder ein paar Konzentrationsübungen? Er probierte es mit Musik.
Als Jens auf den heimatlichen Hof einbog, fühlte er sich etwas entspannter. Trotzdem hätte er sich am liebsten gleich schlafen gelegt. Vielleicht wunderte er sich deshalb nicht sofort über die Szene auf dem Hof. Sina und Leonie bewegten sich als tanzten sie nach einer fremden, irgendwie beruhigenden Melodie über den Hof oder genauer, sie schienen gerade einen noch nie erlebten neuen Tanz zu erfinden.
Jens hatte das Autoradio ausgeschaltet und er betrachtete die ungewöhnlichen Verrenkungen seine Mädchen anfangs noch belustigt, dann aber immer gereizter: Warum ignorierten die ihn? So in sich versunken hatte er sie noch nie erlebt. Sie mussten ihn doch gehört haben?
Beim Aussteigen wandte Jens seinen Blick nicht von den Kindern ab. Rief ihnen vor lauter Verwunderung auch noch nichts zu. Was war nur los? In den Ohren hatten sie wohl nichts. Nein, jetzt endlich fiel es Jens auf: Etwas schwirrte um die Mädchen herum. Mit dem spielten sie. Schmetterlinge? Nein, das, was die beiden so faszinierte, summte und war größer als Bienen oder Wespen ・c Hornissen, das sind Hornissen! Verdammt! Die Mädchen müssen da weg! Und zwar schnell! Selbst, wenn ihm in dem Moment jemand erklärt hätte, Hornissen seien ganz liebliche Tiere, hätte er den zur Seite geschoben und geantwortet, ・c aber keine Spielkameraden für meine Töchter.
Jedenfalls schaltete er sofort um auf Dienst. Bei Gefahr ruhig und beherrscht handeln. Die Tiere nicht reizen. Die waren angeblich normalerweise nicht aggressiv. Aber ob die hier das wussten?
Jens・L Hand lag auf der offenen Autotür. Er wartete. Noch immer beachtete ihn niemand. Für einen Moment verharrte er, mit einer Gesäßecke noch auf dem Fahrersitz, mit einem Fuß schon draußen auf dem Boden. Seine Stimme kam ihm selbst fremd vor, als er rief: „Sina, Leo, wollt ihr euren Papa nicht begrüßen?・
Die Zwillinge drehten sich zeitlupenartig zu ihm um. Zumindest kam es Jens so vor. Auf ihren Gesichtern hatte irgendein wunderschöner Traum seine Spuren hinterlassen, von dem sie sich nicht so schnell lösen konnten ・ aber dann liefen sie plötzlich auf Jens zu, gerade so, als wäre sie eben erwacht.
Der Hornissenschwarm folgte ihnen. Jens schwitzte. Gleich mussten die Kinder seine Aufregung bemerken, fragen, was los sei ・c Wären dann immer noch die bestachelten Insekten hinter ihnen her und die beiden bekämen einen Schreck und schrien und schlügen um sich ・c nicht auszumalen!
Normalerweise hängten sich Sina und Leonie zur Begrüßung sofort an Jens・L Arme. Er hätte sich dann so lange wie ein Kettenkarussell um die eigene Achse drehen müssen, bis er nicht mehr gekonnt hätte, und die Mädchen hätten dazu vor Vergnügen gequietscht und gebrüllt, dass sich die Nachbarschaft beschwert hätte, läge das Grundstück nicht so weit weg vom Dorf.
Jetzt packte Jens zuerst Leonie am Arm und drückte sie auf die Rückbank, bekam mit der anderen Hand Sina zu fassen, schob sie auf den Sitz neben ihre zur Seite rutschende Schwester. Ruhig bleiben, mahnte er sich immer wieder, bleib ganz ruhig! Bring die Kinder weg! Und bleib ruhig!
Wenigstens war noch keine Hornisse bis in den Wagen vorgedrungen.
Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er reglos in seiner vorgebeugten Stellung. Da passierte es zum ersten Mal: Ausgerechnet in diesem Moment, als die Angst um seine Kinder ihm fast den Atem nahm, spürte er sie, diese unvermittelt einsetzende, unerklärlich absurde Freude. Am liebsten hätte er ein Lied gesummt. Er schüttelte sich. Verrückt!
Aber noch überwog der Wunsch, Sina und Leonie zu schützen. Jens schlug die Tür zu, lief um den Wagen herum, kletterte auf den Fahrersitz, schloss die vordere Tür und wollte vom Hof fahren. Überdachte schon die nächsten Schritte: Wenn hier so viele Hornissen herumschwirrten, war vielleicht ihr Nest nicht weit. Er musste sich sofort darum kümmern, die Feuerwehr rufen ・c
Da waren plötzlich ohne ersichtlichen Grund alle Hast und Unruhe wie weggeweht. Als hätte es nie eine Veranlassung dazu gegeben. Jens tauchte in einen Traum ein. Richtiger: Etwas tauchte ihn in diesen Traum hinein. Plötzlich umgaben ihn lauter schwebende Wesen. Sangen und umtanzten ihn wie Elfen oder Engel, wie Phantasiegeschöpfe von unbeschreiblicher Schönheit. Lachten ihn vergnügt an. Vergeblich sagte er sich, das sah er nicht wirklich, das musste eine Halluzination sein. Überall dort, wo er jetzt schwirrende Elfchen zu erblicken glaubte, waren ihm doch eben noch Hornissen entgegengesummt. So etwas wie eine innere Stimme aber antwortete: Na und, ist diese wunderbare Vorstellung etwa nicht schöner?
Langsam griff Jens wieder nach den Armen seiner Töchter. Er zog Sina und Leonie aus dem Auto heraus. Vergaß, dass er sie eben noch hatte beschützen wollen. Nein, wunderte sich schon darüber: Wovor eigentlich beschützen? Vor diesen schwebenden Elfchen etwa? Die jetzt auch noch alle irgendwie die Gesichtszüge seiner Zwillinge angenommen hatten? Ihn als Schwarm von Sinas und Leonies umkreisten? Das konnte er ja wohl nicht ernst gemeint haben!
Zwischendurch, für Sekundenbruchteile, verschwammen die Bilder. Da erkannte er im Hintergrund sein saniertes Gemäuer. Da ängstigten ihn summende Insekten in unmittelbarer Nähe. Aber schon war das Bild wieder ein anderes. Seine Kinder waren überall. Schwebten mit Flügelchen um ihn herum. Wie in Trance rief Jens ihnen zu: „Wollen wir nicht ein paar Blumen für Mama pflücken?・ „Oh, ja・, antworteten die beiden, also die vielen, und sie tanzten in den Garten. Jens sah einen ganzen Elfenreigen um sich herum. Er schnitt drei Rosen ab, die Mädchen flochten vier Butterblumenkränze. Setzten sich und ihrem Vater je eine Krone auf. Tanzten und tanzten. Und als Janine aus dem Dorf zurückkam, schmückten sie auch deren Kopf. Die wunderte sich überhaupt nicht und dutzende summender Hornissen-Elfchen freuten sich mit ihnen.
In der Dämmerung erzählte Jens Leonie und Sina wie immer eine Schlafgeschichte. Auch Janine hörte zu. Jens lag noch lange danach munter und lauschte in sich hinein. War nun alles in Ordnung oder nicht? Aber warum eigentlich nicht? Es war bestimmt alles in bester Ordnung!
Erst am nächsten Morgen, als sein E-Car automatisch den Weg zur Dienststelle in Berlin einschlug, fing er an zu grübeln. Sina, Leo, Janine, er selbst ・c Waren sie gestern alle total weggetreten? Was war da nur passiert? Kaum versuchte er in Gedanken den tatsächlichen Ablauf des Abends nachzuzeichnen, begann sein Kopf zu schmerzen. Und wie! Immer wenn er begann, sich auf seine Begegnung mit den Hornissen zu konzentrieren, hätte er vor Stechen in den Schläfen brüllen mögen. Dachte er dagegen Ist ja nicht so wichtig, fühlte er sich entspannt, und die Schmerzen verschwanden von einer Sekunde zur nächsten.
Also ließ es Jens an diesem Vormittag dabei bewenden. Er alarmierte nicht die Feuerwehr, er sprach Janine nicht auf die Hornissen an, und er erzählte auch seinen Kollegen nichts von der Sache. Es war ja klar, was die ihm geraten hätten: Ruf die Feuerwehr und geh zum Psychiater! Und natürlich hätten sie wieder über ihn gelacht.
An den folgenden Tagen fuhr er stets beschwingt nach Hause. Im Auto trällerte er vor sich hin ... egal, worüber er sich im Büro geärgert haben mochte. Immer neu begeisterte Jens das Gefühl, er würde bald wieder bei seiner Familie sein. Darauf konnte er sich doch freuen, versuchte er seine inneren Zweifel zu zerstreuen.
Bei deiner Familie? Von wegen! Du freust dich auf irgendwelche Hornissen! Wie abartig! Denk da bloß nicht weiter drüber nach. Sonst ・c Nein, nein, nein, mit denen hängt die Stimmung überhaupt nicht zusammen.
Hing sie natürlich doch, und Jens wusste das. Stand nicht seine ganze Familie unter deren Einfluss? Befanden sie sich alle in Gefahr? ・c Quatsch! Worin sollte die bestehen? Er musste das herausbekommen, trotz Trugbildereien und Kopfschmerz. Allerdings... wenn er die anderen und sich selbst von den Hornissen befreite, ginge es ihnen schlechter als jetzt; und sollte er sich jemandem anvertrauen, käme er so schnell nicht mehr runter von der Psychiatercouch. Wem war damit geholfen? Es war doch nichts Schlimmes passiert. Jens nahm sich vor, alles zu beobachten und alles Ungewöhnliche aufzuschreiben. So, redete er sich ein, brauchte er das Angenehme nicht aufzugeben und blieb dennoch Herr der Lage. Aber was war überhaupt ungewöhnlich?
An einem Sonnabend feierte das Dorf Erntefest. Abends hatten Jens und Janine ihre Töchter gemeinsam ins Bett gebracht. Am Sonntagmorgen kamen sie gegen vier Uhr beschwipst zurück. Es war schon hell, aber noch kühl.
„So, jetzt werde ich das Nest ausräuchern・, rief Jens, berauscht vom Alkohol. Er horchte in sich hinein. Kein Schmerz in der Schläfe. Nichts war da von dem, was sonst von den Hornissen ausging. Jens fühlte sich ihnen überlegen. Vergeblich versuchte Janine, ihn ins Haus zu zerren. „Lass mich・, schüttelte er sie ab. „Diese Viecher! Jetzt sind sie fällig.・
„Lass doch, Jens!・
Sein Jagdfieber war nicht zu besänftigen. „Am liebsten hausen Hornissen in Mauervorsprüngen・, erklärte er im Brustton der Überzeugung. „Da kannst du Martin fragen. Der hat schon mal Hornissen gehabt.・ Nur mit großer Mühe gelang es ihm, nicht zu lallen. Sorgsam suchte er mit Augen und Fingerspitzen die Wand seines Hauses zum Hof und ihre Umgebung ab. Und wirklich ...
„Komm her! Na, siehst du?!・ Diesmal schliefen die Hornissen, und Jens zeigte Janine das Nest neben dem Kellerfenster. „Das pack ich mit dem Kescher und schmeiß es in den Quadder.・
Janine verkniff sich ihren Kommentar. Allein die Vorstellung, wie Jens das Nest aus der Mauerlücke in den Kescher bekommen wollte, überforderte ihr Vorstellungsvermögen ・c und seines dann wahrscheinlich auch. Jedenfalls zog Janine Jens weg vom Keller in den Korridor. In der Schlafzimmertür hatte er sein Vorhaben längst vergessen.
Halbwegs ausgeschlafen sah er zur Mittagsstunde in den Hornissen wieder liebenswerte Insekten. Wann immer sie von nun an in seiner Nähe schwärmten, lösten sie Hochstimmungen aus. Jens konnte sich nicht von ihnen losreißen. Warum auch, dachte er, wenn er denn einmal dachte: Mindestens auf Leo und Sina haben sie einen positiven Einfluss. Die beiden haben sich in der ganzen Zeit kein einziges Mal mehr gestritten, und in der Schule sind sie nun die besten. Durfte er das zerstören? Die Ausreden summten in Jens・L Kopf wie ein Hornissenschwarm.
Das Nest überwinterte. Nichts schien sich im nächsten Jahr verändert zu haben. Was also sollte dieser dumme Scherz? Wer hatte nur von dieser Sache Wind bekommen?
・c „So nun ist genug. Ihr habt euern Spaß gehabt, und jetzt lasst mich in Ruhe.・
Doch die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung blieb dabei. Jens solle sofort kommen. Seine Töchter Sina und Leonie seien von Hornissen angefallen worden. Sie schwebten in Lebensgefahr. Auch seine Frau Janine habe es erwischt. Sie habe versucht, die Mädchen aus dem wütenden Schwarm zu befreien.
Noch immer wehrte sich jede Pore an Jens, etwas von dieser Vorstellung aufzunehmen. Dann aber raste er los zum Krankenhaus.
Es war ernst. Jens brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht auszurufen, „Wie seht ihr denn aus?・ Aber sein Gesicht sprach sicher Bände. Jens blieb bis zum Abend. Fuhr absolut verunsichert aufs Grundstück. Fürchtete sich vor dem Schlafengehen! Die entstellten Gesichter der Mädchen und Janines, ihre aufgequollenen Lippen ・c allergische Reaktion hörte er noch die Worte der Ärztin, die ihn hatte beruhigen wollen, das Schlimmste sei vorbei ・c Das würde Träume geben! Albträume dazu zu sagen, wäre die blanke Untertreibung. Dachte Jens. Erwartete Jens.
Doch was geschah? Entsetzt bemerkte er schon beim Einschlafen, dass er die Hornissen mehr als seine Familie vermisste. Dass ihn die Vorstellung plagte, dass die Feuerwehr das Nest entfernt hatte. War er krank?
Nach einer Woche waren Janine, Sina und Leonie wieder daheim. Jens freute sich natürlich darüber. Doch wo war dieses Glücksgefühl geblieben, das im letzten Jahr von den Hornissen ausgegangen war? Warum nur waren dieselben erst so harmlosen Wesen plötzlich wie Feinde über seine Familie hergefallen? Was war inzwischen anders? Die letzte Frage beschäftigte Jens am meisten. Er ging alle Möglichkeiten durch. Was könnte ・c , nein, hatte sich überhaupt irgend etwas verändert? Es war absolut alles beim Alten. Das Haus, die Umgebung, das Wetter, die Kinder ... Halt! Jens rannte hoch in Kinderzimmer. „Sagt mal, benutzt ihr neuerdings ein Parfüm oder habt ihr euer Deo gewechselt? So was reizt Insekten manchmal.・
„Aber Papa, wir doch nicht!・
Also auch das nicht. Eine lange Liste von unglaublichen und weniger unglaublichen Möglichkeiten. Eine nach der anderen strich Jens. Zuletzt blieb nur eine übrig: Er hatte im Winter den Keller aufgeräumt, in dessen Mauerspalt das Hornissennest verborgen gewesen war. Aber was sollte das eine mit dem anderen zu tun haben? Er war doch nicht an das Nest herangekommen. Der seltsame Fall landete vorübergehend in der Schublade „ungelöst・ ・c
Todeserwachen
Rahman hatte sich letztlich an seine neue Umgebung Näswerder und den Trooch gewöhnt. Er wurde Spitze ・ und nicht nur im Genießen von Schmachtblicken der Mädchen. Bald schon wollten die meisten bei Klassenarbeiten in seiner Nähe sitzen, um abzuschreiben oder seine Lösungszettel zugeschoben zu bekommen. Warum sollte er dann nicht Medizin studieren? Klar, damit kostete er seine Familie viel Geld und er zöge aus der gerade gewonnenen Heimat schon wieder weg nach Berlin, aber er besänftigte seine Eltern. Er versprach ihnen, sich nach dem Studium um eine Stelle an der mecklenburgischen Landesklinik zu bewerben, und das war doch eine Aussicht! Der Vater sah seinen Sohn schon als künftigen Chefarzt. Da machte es auch nichts, als die erste Bewerbung trotz eines hervorragenden Staatsexamens scheiterte. Rahman blieb vorerst in seiner Studentenbude in Berlin, um seinen Doktor der Medizin zu machen ・ das hoffte zumindest die Familie.
Von Rahmans Versuchen mit seiner Kugel ahnten sie natürlich nichts. Er hatte sie während des Studiums zum Beispiel einem künftigen Zahnarzt gezeigt. Man müsse eben, entschied dieser überzeugt und im Vollbesitz eines nicht unerheblichen Alkoholpegels, mittels eines Zahnbohrers ein Loch in die Oberfläche des merkwürdigen Objekts bohren. Unglücklicherweise machten sich beide sofort ans Werk. Die Folge dieses wissenschaftlichen Experiments war niederschmetternd. Der Bohrer zerbrach wie die Freundschaft der beiden Studenten, als sich abzeichnete, wie hoch der nächtliche Schaden war. Dabei hatten sie eines trotzdem nicht geschafft: Die Oberfläche der Kugel war nicht einmal angeritzt. Der andere Student ging Rahman von da an aus dem Weg.
Rahman entschied für sich, von nun an jedes wissenschaftliche Interesse an diesem nichtdentalen Medium geheim zu halten. Schließlich war die ganze Angelegenheit nur dadurch ins Rollen gekommen, dass er erzählt hatte, wie er kurz zuvor ähnlich den Versuchen auf Näswerder mit dem Hammer auf die Kugel eingedroschen hatte. Immerhin sei er wohl jetzt stärker und geschickter als damals, hatte er angesichts der gemeinschaftlich geleerten Flaschen erklärt. Und dass er abgerutscht war, ohne Wirkung zu erzielen. Die unscheinbar graue Kugel schien ihn verspotten zu wollen. Was er auch tat, er erreichte nichts. Sollte er vielleicht aufs Dach steigen, um sie aufs Pflaster herunterfallen zu lassen? Wahrscheinlich zertrümmerte er damit eher ein Stück Straße als den Kern der Kugel freizulegen. Das hatte dann seinen Kommilitonen provoziert, dem Ding mal richtig auf den Zahn zu fühlen.
Nie wieder so einen Mist!
Der Vorsatz hielt allerdings nicht lange. Die Wendung brachte eine sich anbahnende Freundschaft mit einer Röntgenassistentin. Dass er nicht früher auf die Idee gekommen war! Warum nicht erst einmal nachsehen, ob etwas drin war in dem Ding?
„Ja, es ist verrückt. Aber das Ding beschäftigt mich schon seit meiner Kinderzeit. Es schadet doch nichts. Du durchleuchtest die Kugel in einer Pause. Ich tue, als wäre ich Patient und verschwinde sofort wieder.・
Sie konnte ihm seine Bitte nicht abschlagen. Sie war zwar noch in der Ausbildung, aber sie freute sich zu sehr, dass er noch etwas verrückter schien als die Männer, die sie bisher kennen gelernt hatte. Alles geschah zwischendurch, außer der Reihe, ähnlich anderen studentischen Scherzen.. Schnell ein paar Röntgenbilder, für die eigentlich Rahman in die Kabine gegangen war ・c „Entschuldige, ich hab ein paar Bilder mehr gemacht. Das macht doch wohl nichts bei so einer toten Kugel, oder?・ Das war natürlich eine naive Frage, aber Rahmen ahnte das nicht. Er hatte längst ein anderes Problem als die Frage, ob seine Partnerin in diesem Fall Probleme mit der technischen Abrechnung der Röntgenuntersuchungen bekommen könnte: Als er nämlich, spitzbübisch feixend, die Kugel in seinem Rucksack hatte verschwinden lassen, schien sie bläulich zu schimmern. Und Rahman war absolut nüchtern. Und verunsichert.
Abends, als er sein Schwurstück genauer betrachtete, konnte er sich nicht entscheiden. Bildete er sich das Schimmern nun ein, weil er es am Nachmittag gesehen hatte? Hatte er es denn überhaupt gesehen? Wenn ja, war es sehr schwach. Vielleicht war es trotzdem besser, die Kugel in eine Bleimatte einzupacken? Man konnte ja nicht wissen・c Doch! Als er abends die Kugel auf den Tisch legte, das Licht ausknipste und lange genug gewartet hatte, um die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, sah er es wieder: Da flimmerte etwas bläulich. Und das hing nicht mit seinem Zustand zusammen.
Zwei Röntgenaufnahmen hatte er mitbekommen.
„Also ich weiß nicht, was das sein soll・c・
Eine Aufhellung mit scharfen Konturen in der Mitte... Das kribbelte ungeheuerlich: In der Kugel war etwas verborgen. Daran gab es keinen Zweifel. „Das wäre doch einmal ein Grund zur Freude, wenn die unscheinbare Schale vielleicht so etwas wie einen Edelstein von gewaltigen Ausmaßen verbirgt, oder?・
Die Röntgenassistentin ließ sich von Rahmans Lachen anstecken. Beide waren sich des Unsinns wohl bewusst. So leicht, wie die Kugel im Ganzen war, konnte sie keinen schweren Edelstein enthalten. Aber es wurde ein schöner gemeinsamer Abend.
Sicher war nur eines: Den Kern seiner Kugel bildete ein vollkommen ebenmäßig geformter fremdartiger Körper. Eine Art Kristall - so groß wie ein Hühnerei mit abgerundeten Ecken, feixte Rahmen. Andererseits war die Kugel fast so leicht wie ein Ball! Jeder Kern dieser Größe hätte für sich allein schon schwerer sein müssen!
In der folgenden Woche besuchte Rahman einen Freund in dessen Werkstatt. Pedro hatte einen eigentümlichen Grund zu feiern: Seine letzte Freundin hatte ihn abserviert. Vielleicht hätte er zugeben sollen, was er wirklich vorhatte: Ein Frustsaufen. Egal. Piet und Norman waren dabei und Rahman, natürlich. Keinem fiel auf, wie sehr der sich beim Trinken zurückhielt. Trotzdem hatte die Truppe schon früh alle Reserven aufgebraucht. So stiegen Piet und Norman aus dem Wetttrinken aus.
„Bleibst wenigstens du noch?・
Pedros Frage kam Rahman gerade recht.
„Klar・, antwortete er. Jetzt war es so weit. Pedro brachte die anderen zur Tür ・ und ging in den Keller, Bier holen. Die Zeit musste reichen. Kaum war Rahman allein, lief er zur Werkstatt, holte seine Kugel hervor, spannte sie in einen Schraubstock und setzte einen von Pedros Spezialbohrern an. Es war wie ein Rausch. Zugegeben: Etwas Alkohol hatte er wirklich im Blut. Seine Bewegungen waren nicht gerade die eines Arztes. Und er hatte es eilig. Ihm ging dabei die Sache mit dem Zahnarzt durch den Kopf. Dieser Reinfall, den er Pedro gegenüber nicht erwähnt hatte ・c der musste ja nicht alles wissen ・ in seinem Zustand bedachte Rahman überhaupt nicht, dass er ja irgendeine Geschichte erzählen musste, wenn auch Pedros Bohrer zu Bruch gehen sollte. Rahman fing einfach an.
Der Bohrer senkte sich langsam, setzte auf, es stoben ein paar Funken zur Seite, es gab ein schrilles Geräusch und ・c der Bohrer drang ein, als hätte er ganz normales butterweiches Holz vor sich! Rahman drückte den Rückwärtsgang. Tatsächlich: In der bisher so unverwüstlichen Oberfläche war ein winziges Loch. Zitternd suchte Rahman nach größeren Bohrern. „Das Loch・, murmelte er vor sich hin, „ich muss es vergrößern・c・
Ein Wunder geschah: Er verletzte sich nicht. Er hörte sogar Pedro rechtzeitig kommen, steckte die Kugel in die Tasche, blies den Staub zur Seite, lief zurück ins Wohnzimmer ・c
Als Pedro die Tür öffnete, hatte Rahman sich so hingefläzt, als hätte er die ganze Zeit sehnsüchtig auf Nachschub gewartet. Aus Begeisterung über den Erfolg trank er mit Pedro mit, bis beide nicht mehr konnten und wollten.
Rahman konnte es kaum aushalten. Er entschuldigte sich bei seinen Eltern. Wochenenddienst. Er rüstete sich mit unterschiedlichsten Werkzeugen aus. Es sollte ein richtiges technisches Wochenende werden. Dachte er.
Er irrte. All sein Werkzeug brauchte er nicht. Am Freitagabend drückte er nur probeweise die Spitze eines Nagels leicht auf das Bohrloch und klopfte mit dem Hammer darauf. Schon passierte es. Die Schale zerplatzte.
Verwundert starrte Rahman auf die Reste der Kugel, die ihn vom Tisch aus staubig angrinsten: Da lag etwas, was verdächtig an ein benutztes Kondom erinnerte, nämlich die äußere Kugelhülle mit Loch. Dann lag da ein Haufen grauer Dreck, teils klumpig, teils staubkörnchenfein. Aber was Rahmans Blick fesselte, war natürlich der Kern, eben der, der das Röntgenbild so aufregend beherrscht hatte.
Ein schillernder und funkelnder Riesenkristall. Rahman nahm ihn in die Hand, putzte ihn blank, genoss das Licht, das aus ihm zurückstrahlte und presste ihn schließlich fest an sich. Seine Faust schien zu glühen, Wärme auszustrahlen, die wohlig durch den ganzen Körper floss. Ein Glückstaumel. Rahman fühlte sich federleicht. Benommen. Berauscht. Fast im selben Moment aber auch tonnenschwer müde. Er schwankte, summte vor sich hin, wiegte sich wie eine maskuline Bauchtänzerin in den Hüften. Natürlich ließ er während der ganzen Zeit seinen Kristall nicht eine Sekunde los. Er barg ihn in der rechten Hand. Mit der linken streifte er Hemd und Hose vom Körper. Ließ sie am Boden liegen und sich ins Bett fallen. Einhändig zog er die Decke über den Körper.
Welch ein Gefühl! Ein unbeschreiblich wertvoller Kristall. Bestimmt! Ein sich kurz aufbäumender Gedanke: Rahman, schon morgen haben sich alle Illusionen in Wohlgefallen aufgelöst. Du kannst ja nicht einmal einen Edelstein von einem ziemlich wertlosen Bergkristall unterscheiden. Wenigstens für diese eine Nacht darf ich mich reich fühlen, antwortete er sich. Dabei vergaß er sich zu wundern. Wer wird schon so unvermittelt müde und schläft dann nicht ein?
Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein. Diese schwebenden, ihn gnadenlos jagenden Kristalle ・c Grrr! Und dieser leere Raum. Er war gerannt und gerannt, hatte keine Luft mehr bekommen, ・c und hätte jetzt schweißgebadet feststellen müssen, dass er sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Was wäre das für ein wunderschöner Albtraum gewesen zum Weitererzählen!
Aber die Unruhe nahm eher noch zu, jetzt, da er, mit trockener Haut und ohne Decke über dem Kopf, aufgewacht war. Wirklich aufgewacht? Ganz sicher? Vielleicht war er nur in den nächsten Traum geraten?
Neben ihm zischte etwas. Das war eigentlich ausgeschlossen. Rahman hatte das Zimmer von innen verriegelt, und sein Zimmergefährte war übers Wochenende abgeholt worden. Es konnte also nichts und niemand im Raum sein und zischen.
Am liebsten hätte Rahman laut „Ist da wer?・ gerufen, geantwortet, „Ja. Ich!・ und gelacht. Aber dafür war das Rauschen zu deutlich. Es hörte sich an, als ob Gas aus einem Rohr ausströmte. Oder・c Nein, das Geräusch in seinem Zimmer wurde deutlicher, es kam näher. Rahman atmete ein, aus, ein ・c Er hielt den Atem an. Kein Zweifel: Etwas rauschte vom Tisch her auf ihn zu, und das war, so sehr er sich das gewünscht hätte, nicht sein Rausch.
Es wurde immer heller. Der ganze Raum war von blauem Dämmerlicht erfüllt.
Die Lampe verbreitete normalerweise natürlich kein blaues Licht, und Rahman hatte sie sowieso erst anschalten wollen. Sein linker Zeigefinger hing noch auf dem Weg zum Lichtschalter in der Luft.
Rahman lag da wie erstarrt. Der Lampenschirm! Ungläubig klebte Rahmans Blick auf dessen bisher so herrlich kitschigen Muster. Wie sich der Schirm veränderte. Sich bewegte. Als ob er aufschäumte... und dann, ebenso kurz, glitzerte er wie von Eiskristallen überzogen. Zum Schluss verlor er jede Kontur und schmolz. Auch der Schreibtisch darunter sackte wie in einer Computersimulation zu einem zähen Brei zusammen.
Rahmans Blick verfolgte fassungslos, was da über seine Einrichtung hinwegspritzte. Bläulich leuchtende, sich scheinbar aus eigener Kraft bewegende Tropfen. Ja, wirklich: Hüpfende Tropfen! Wie lebendig! Immer dort, wo sie auftauchten, lösten sich die gewohnten Dinge in Brei auf. Die Tropfen veränderten dabei ständig ihre Gestalt. Strahlten, glühten, teilten sich. Sprangen weiter, wo alles zähflüssig geworden war, wo nichts mehr stand oder lag ・c
Und Rahman lag in seinem Bett! Wenn sie so weiter machten, hätten sie es bald erreicht! Sich selbst umherspritzend, hüpfend・c
Ein Traum! Ein Albtraum! Rahman, wach auf!
Dumm nur, er kam sich wahnsinnig munter dabei vor. Und das Kneifen mit der linken Hand verursachte echte Schmerzen. Mehr als man träumen konnte. Trotzdem: Wo gab es so etwas sonst? Rahman bekam keinen Laut über die Lippen. Rührte sich nicht.
Gerade noch rechtzeitig, bevor die ersten Tropfen das Bett erreichten, schnellte er dann doch hoch. Landete artistisch auf dem Fensterbrett, dem einzigen Rest seines Zimmers, den die Tropfen noch nicht erobert hatten. Den Weg zur Tür hatten sie versperrt, Tisch und Stühle in der Zimmermitte waren im Brei verschwunden. Vor Rahmans Augen verwandelte sich das Bett, in dem er eben noch gelegen hatte, erst in etwas Glitzerndes; dann löste es sich auf. Mit etwas tieferem Schlaf hätten sie ihn selbst bereits aufgelöst. Schlammige Ruhe.
Mühsam suchte Rahman nach Ordnung in den Gedanken.
Einmal angenommen, er sah, was er sah, was sah er dann? Verwandlungen, die immer mit einer Schaumwolke begannen, auf der die ersten Tropfen ritten. Dann Eiskristalle auf der bisher gewohnten Zimmereinrichtung, auf die er notfalls auch verzichten konnte, und dann schmolz alles zu einer breiigen Masse zusammen. Wenn er nicht schnellstens einen Fluchtweg fand, dann wäre auch er gleich nur noch Brei.
Eine Schaumwolke näherte sich ihm. Inzwischen war auch der letzte Schrank verschwunden. Der Raum war leer. Bis auf den Brei und die lebhaft funkelnden Tropfen an seinen Rändern. Die Zimmertür sank zusammen. Löste sich auf. Gab dem träge fließenden Strom den Weg nach draußen frei ・c
Rahman schöpfte wieder Hoffnung. Unmengen blau funkelnder Tropfen spritzten weg auf den Flur. ・c Fließt nur, fließt! Sucht euch was anderes! ・c Warum bildete er sich ein, dass ein Teil dieser Misttropfen an der Mauer nagte und zu ihm hochzuspringen versuchte? ・c Weg, weg!
Die Tropfen ließen ihm immer weniger freien Raum. Scheinbar gezielt rückten sie gegen ihn vor, langsam, aber unerbittlich. Holten sich immer mehr Brüder, Schwestern und gefräßige Nichten, obwohl sie doch längst über den Flur hätten abfließen können.
Rahman krallte sich mit einer Hand am Fensterkreuz fest, mit der anderen umklammerte er noch immer seinen Kristall. Er brüllte um Hilfe. Hoffte im nächsten Moment, dass ihn niemand gehört hatte. Wie sollte ihm jemand helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. In so eine unbegreifliche Gefahr?
Ihm blieb nur eine Chance: Raus! Da waren zwar ein paar Etagen bis unten, aber ・cJa, raus hier! Draußen ・c
Schon hatte Rahman das Fenster aufgerissen. Mit einer Windbö klatschte erfrischender Regen ins Zimmer. Dort, wo er auf die funkelnden Tropfen traf, zischte es und ・c denkste: Nichts war gelöscht. Im Gegenteil! Einige jener „Tropfen・ spritzten nach oben. Erreichten Rahman. Nicht viele, aber das war wohl egal. Er merkte es ja nicht mehr. Er hatte sich gerade etwas nach draußen gebeugt, da begann seine Umwandlung. Als eine Glitzerpuppe war der vorgebeugte Teil schwerer als das Beinstück. Das ganze Ding, was einmal Rahman gewesen war, stürzte zum Fenster hinaus. Auf dem Bürgersteig prallte es auf und zerbrach. In weitem Halbkreis verteilten sich die Bruchstücke. Rahmans Hand am abgebrochenen Unterarm umklammerte noch immer den Kristall und bot sich sofort als künftiges interessantes Fundstück dar. Vielleicht zwei Zehntelsekunden fehlten, dann hätte die ganze Puppe eine Jahrhunderte überdauernde Festigkeit gewonnen. Wäre danach aber im Brei verschwunden. So aber sprangen die wenigen Tropfen, die mit abgestürzt waren, von ihrem unvollendeten Werk in unbekannte Richtungen davon.
Ein stichhaltiger Beweis
Für Jens wäre die Sache mit den Hornissen im Laufe der Zeit wahrscheinlich allmählich in Vergessenheit geraten. Eine gewesene Katastrophe war keine. Doch Sina und Leonie hielten die Erinnerung Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wach. Ein verdächtiges Summen genügte, schon schrien und tobten sie, als hätte ihnen jemand kochendes Wasser über die Arme geschüttet. Jens musste sie deshalb sogar aus dem alljährlichen Sommercamp nach Hause holen. Aber das war wohl eine verständliche traumatische Reaktion, die auch allmählich wieder vergehen würde, hoffte Jens.
Eines Abends aber rief er nach Sina und bekam keine Antwort. Er wusste, sie war im Kinderzimmer. Ein zweiter Ruf. Immer noch keine Reaktion. Auch Leonie meldete sich nicht.
Verärgert stürmte Jens die Treppe herauf. Die Mädchen mussten ihn doch gehört haben. Hatten sie wieder Kopfhörer auf?
Jens klopfte an die Kinderzimmertür. Nichts. Er drückte die Klinke herunter, trat ein, entdeckte Sina am Fensterbrett, holte Luft für eine Standpauke und ・c blieb reglos stehen. Völlig entrückt besah sich seine Tochter gerade eine Wespe auf ihrem rechten Zeigefinger! Die schien sich friedlich zu putzen. Augenblicklich hatte Jens vergessen, was er eigentlich gewollt hatte. Leonie näherte sich von ihrem Hausaufgabentisch aus der Schwester. Ignorierte den zwischen den Türpfosten aufgerichteten Vater. Hatte nur Augen und Ohren für die Wespe.
Reglos bestaunte Jens die seltsame Szene. Erst wollte er irgendetwas rufen, die Mädchen aus diesem hypnoseähnlichen Zustand aufwecken, aber dann schüttelte er den Kopf und machte leise die Tür von draußen zu. Ging jetzt alles wieder von vorn los? Nein, ihn hatte der Rausch verschont. Er betrachtete alles ganz nüchtern ・c allerdings, ohne das Geringste zu begreifen.
Am folgenden Wochenende war er mit seiner Familie zu Besuch bei seinen Eltern auf Näswerder. Sie breiteten im Garten hinter dem Haus die Decke für ein gemütliches Picknick aus. Jens・L Mutter nahm das Deckchen vom Picknickkorb ・c Plötzlich schrie Leonie auf. Vielleicht eineinhalb Meter von ihr entfernt flog eine Biene vorbei. Das Mädchen deutete mit dem Zeigefinger auf das Insekt und hüpfte umher, als müsste sie die anderen vor einer Klapperschlange warnen. Nun war auch ihre Schwester aufmerksam geworden. Beide brüllten so lange, bis das Picknick nach drinnen verlegt wurde.
Jens schwieg. Wie war das möglich? Er hatte doch mit eigenen Augen gesehen, wie die Mädchen zu Hause auf die Wespe reagiert hatten!
Nun wollte er es genau wissen. Zuerst fiel ihm auf, dass, je näher Sina und Leonie dem Kinderzimmer kamen, sie sich immer normaler benahmen. Aber was war eigentlich normal? Dass sie die Nähe von Insekten suchten? Nach dem krankenhausträchtigen Erlebnis doch wohl nicht. Sollte sich im Kinderzimmer eines unerkannten Rätsels Lösung befinden?
Mehrmals schaffte Jens dort extra Wespen hinein.
Und was geschah? Sina und Leonie spielten mit ihnen. Wurden auch nicht gestochen.
Jens fielen die absurdesten Ziele für Familienausflüge ein. Doch alle hatten eines gemeinsam: Kaum hatten Sina und Leonie ihr Zimmer verlassen, schreckte sie das kleinste Gebrumm. Es konnte also nur das Kinderzimmer sein.
Bei nächster Gelegenheit, als die restliche Familie außer Haus war, durchsuchte Jens das Reich seiner Zwillinge ・ oder, wie er das ausdrückte, er räumte radikal auf. Ununterbrochen schimpfte er vor sich hin. Was die beiden alles herumliegen hatten! Na, mal sehen, ob sie etwas von dem vermissen würden, was er alles in Müllsäcken hatte verschwinden lassen ・c
Zum Schluss stieg er auf einen Stuhl, um auf Sinas Kleiderschrank Staub zu wischen. Plötzlich kullerte ihm ein Ball entgegen. Nein, stellte er verwundert fest, das war ja seine Näsie-Kugel! Wie die nur dorthin gekommen war? Weggeworfen hatte er sie nicht, aber mit der Zeit war sie unbeachtet in einer seiner Schatz- und Plunderkisten verschwunden. Auch bei seinem Umzug hatte er nicht auf sie verzichtet und sie im Keller verstaut. Da hatten die beiden wohl in seinen Schätzen gestöbert, die Kugel wie einen Ball benutzt und sie später auf den Schrank geworfen? Leicht genug war sie dafür.
Die Kugel also. Stimmt. Sie hatte im vergangenen Jahr wahrscheinlich noch im Keller in der Nähe des Hornissennests gelegen, und jetzt im Kinderzimmer ・ jeweils dort, wo sich Insekten und Zwillinge so seltsam benahmen.
Für einen Kriminalisten zählen Beweise. Jens versteckte also die Kugel im Garten. Und wirklich: Nun flüchteten Sina und Leonie schreiend vor der nächsten Biene in ihrem Zimmer. Im Garten aber hockten sie am Abend neben einer Hummel und sangen ein Lied. Sie winkten Jens begeistert heran. „Papa, das musst du unbedingt gesehen haben! Die ist doch niedlich, oder?・
Niedlich! Eine Hummel!
Kaum stand Jens aber selbst dicht genug daneben, empfand er genauso.
Blieb noch eine Frage: Sechs Kugeln waren damals gleich. Warum sollte nur die seine solchen Hummeltanz auslösen? Eigentlich musste das den anderen längst aufgefallen sein. Vorausgesetzt natürlich, die Freunde von damals hatten ihre Kugeln behalten.
Wie war das am unauffälligsten herauszubekommen? Jens fragte bei seinem nächsten Besuch auf Näswerder nur kurz nach Lisa, Rahman und den anderen, schon sprudelten aus seinen Eltern Geschichten heraus, die für ganze Erzählwochen gereicht hätten. Wenigstens erfuhr Jens so, dass einige in Berlin und drum herum wohnten. Ein paar Mal tippte er die herausgesuchten Nummern in sein Handy ein, stockte dann aber. Konnte er sich denn einfach so melden? Wie lange hatte er nichts von sich hören lassen! Er war nicht einmal zum Klassentreffen gekommen. Die meisten Mitschüler wollte er ja nicht wieder sehen. Zwar hatten sie sich in den letzten beiden Schuljahren nicht mehr geprügelt, aber die Troocher waren ihm fremd geblieben. Und die Näsies? Was sollte er denen sagen? Habt ihr eure Kugel noch? Wenn ja, ist euch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?Letztlich überwogen die Ausflüchte. Jens kam sich komisch vor mit seinen Beobachtungen, und so ließ er alles so wie es war. Am besten die Angst der Mädchen vor Insekten ohne Kugel schrumpfte mit der Zeit auf ein normales Maß ...
Die Hellersdorfer Blockade
D
Die Wohnungen waren entsprechend heruntergewirtschaftet. Wer wollte denn an so einer Ecke hausen? In die deshalb sehr preiswerten Unterkünfte waren neben Ausländern vor allem Studenten gezogen. Die wohlhabenden aus der City trieben ihre Scherze mit den Hellis. Sie ließen die Feuerwehr wegen angeblich voll gelaufener Keller oder brennender Dachstuben ausrücken. Das entwickelte sich zu einem speziellen Studentensport, seit den Tätern intensiv nachgestellt wurde und die Anrufer sich deshalb besonders gut verbergen mussten.
Notrufmissbrauch war aber nicht die Aufgabe des Dienst habenden Brandobermeisters in der Feuerwehrleitstelle Charlottenburg. Er hatte jede Meldung ernst zu nehmen. Das fiel ihm allerdings schwer, als ihm aus seiner Notleitung eine schrille weibliche Stimme entgegen tönte: „Kommen Sie schnell! Es ist furchtbar. Es fließt ・c Durch unsere Gänge fließt es, schrecklich, nein! Wir werden verschäumt, verglast, zu Brei gemacht. Die dritte Etage ist weg. ・c・
Er hatte die offenbar verwirrte Anruferin ruhig gefragt, wo denn die schmelzende Etage sei. Als die Stimme antwortete „・c Hellersdorfer Straße 95!・, sendete er die Daten der Rufrückverfolgung an die dafür gebildete Sonderkommission der Polizei. Aber die Stimme gab nicht auf: „Helfen Sie schnell! Wir sind in der vierten Etage und kommen nicht raus. Die dritte ist weggeschäumt und gleich bricht das Haus zusammen ・c・
Mürrisch antwortete er: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich schicke Hilfe.・
Eine Wette? Laut Display kam der Anruf tatsächlich aus der Hellersdorfer 95. Das wäre neu. Oder eine technische Meisterleistung. Na, dachte der Diensthabende, die Feuerwache in der Neuen Grottkauer Straße ist ja nur einen halben Kilometer von dem Katastrophenherd entfernt. Sollen die Jungs auch mal ihren Spaß haben. „ Jungs, mal wieder Alarm! Diesmal wird in unserer 95 gerade eine Etage verschäumt. Könnt ihr das übernehmen?g Die eine dort stationierte Staffel rückte aus. Im Chaosblock sollte also etwas mit Schaum gelöscht werden c und sie sollten übertreiben. Als die Männer aber den Ort des vermeintlich blinden Alarms erreichten, stoppten sie verwundert.
Der Block hatte wie alle hier sechs Etagen. Normalerweise. Jetzt aber schien die dritte etwas flacher als die anderen, so als wäre das Mauerwerk in sich zusammengesackt. Dort, wo die Fensterfront hätte sein sollen, zeichnete sich eine dicke, dunkelgraue Linie ab. In den Fenstern darüber ・ die gab es noch ・ hingen die Oberkörper schreiender Menschen. Gerade in dem Augenblick, in dem das Löschfahrzeug hielt, stürzten Teile des Gebäudekomplexes in sich zusammen. Einige von denen, die gerade noch um Hilfe gerufen hatten, flogen in hohem Bogen nach draußen. Für sie kamen die aufgespannten Tücher zu spät. Andere waren noch einen Moment zu sehen, aber sie schrien nicht mehr. Wie zu Puppen erstarrt rutschten sie in ihre Zimmer zurück.
Die Linie an der Außenmauer bestand aus einem teigigen, teilweise verkrusteten Brei. An seinen Rändern funkelten blaue Tropfen in den Morgen. Vor dem Gebäude lagen Bruchstücke einer menschlichen Gestalt. Die anatomischen Reste umgab eine zähe dünne Masse ohne die blitzenden Tropfen. Zwei Feuerwehrleute, die die Bruchstücke untersuchen wollten, riefen den anderen entsetzt, wenn auch nur bedingt treffend, zu: „Der ist ja mumifiziert!g Immerhin schafften sie die Reste des Mannes zur Seite.
Der Staffelführer, Brandoberinspektor Pantz, hatte sich und, soweit dies in Anbetracht der Lage überhaupt möglich war, die Lage schnell unter Kontrolle. „Schaum marsch!g kommandierte er. Blitzschnell entrollte seine Mannschaft den Schlauch. Pantz gab inzwischen der Einsatzzentrale seine Beobachtungen durch. Weithin tönte seine Stimme, während der Löschschaum die unbekannte Masse zu überdecken versuchte: „c Das Gelände weiträumig absperren. calle verfügbaren Staffeln. Schickt den TD 2 aus Marzahn. Wahrscheinlich c noch Verschüttete am Leben. Und schickt Spezialisten für mögliche weitere Mumien. Notarztwagen, Polizei, das ganze Programm! Die umliegenden Häuser müssen evakuiert werden. c ungehinderten Zugang von allen Seiten. cg Inspektor Pantz ließ mitten in seinem Redeschwall die Arme sinken. Schwieg ganz kurz. Sagte „Oh, Scheiße!g, was offensichtlich keine Meldung an die Zentrale darstellte.
Gerade waren einige der funkelnden Tropfen durch den Löschschaum hindurch aufgetaucht. Während sie wie frisch poliert glänzten und quietschvergnügt nach einem neuen Betätigungsfeld suchten, glitzerte das, was sie hätte ersticken sollen, weiß und absolut starr. Aber auch dieses Bild blieb nur kurz. Dann sackte der Löschschaum zu grauem Brei zusammen. Von den blau leuchtenden Tropfen sah man nun mehr als vorher.
Geistesgegenwärtig befahl Pantz, die Löscharbeiten sofort einzustellen, dirigierte einige seiner Männer, die ersten Schaulustigen abzudrängen und setzte den Synchronbericht an seine Einsatzzentrale fort: „c Die tropfenartigen Gebilde leuchten bläulich wie kleine lebende Gasflammen. Bewegen sich schnell und unregelmäßig, werden ständig mehr. Vernichten alles, was sie berühren. Unklar wie. Richtige Ätzer cg
Inzwischen trafen die ersten auswärtigen Löschstaffeln ein. Die Marzahner Staffel hatte eine Drehleiter mit Korb dabei. Fuhr sie sofort aus. Wenn hier schon nichts zu löschen war, meinte Pantz, so waren doch noch Menschen zu retten. Aus dem früheren fünften Geschoss drang während der ganzen Zeit Geschrei nach draußen. Die Eingeschlossenen konnten sich offenbar nicht mehr selbst in Sicherheit bringen und ihre Kommilitonen auf die inzwischen aufgespannten Tücher schleudern konnten sie auch nicht.
Einer der Feuerwehrleute näherte sich im Korb stehend dem am besten erhaltenen oberen Fenster. Er streckte schon seine helfenden Hände aus, da erreichten ihn einige der Tropfen vom Breirand. Der Mann erstarrte. Gab keinen Laut von sich. Leuchtete weithin. War eine Figur, die sich langsam auflöste. Auf die Straße klatschte.
Pantz kam nicht mehr dazu, eine Warnung zu brüllen. Starr vor Schreck sah er der Verwandlung zu. Schon löste sich auch die ausgefahrene Leiter auf. Auf der turnte ein Teil der Ätzer dem Löschfahrzeug entgegen. Gleich sind sie da, durchfuhr es Pantz. Sie erwischen meine Leute, Karl ahnt nicht, c
Pantz sprang auf, fuchtelte mit den Armen, schrie: „Weg, kommt weg da!g Ohne Megaphon verhallte der Ruf im allgemeinen Geräuschchaos. Karl, der Maschinist ・ also der Fahrer, wie ein Nicht-Feuerwehrmann gesagt hätte ・ bemerkte die Aufregung seines Inspektors. Nie zuvor hatte er seinen Vorgesetzten so wild mit den Armen herumfuchteln sehen. Was der nur hatte? Karl zuckte fragend mit den Schultern, hob die Arme. Pantz rannte los, erreichte die Fahrzeugtür, riss sie auf, packte den Verwunderten c da hatten die Tropfen das Fahrerhaus erreicht.
Pantz sah plötzlich aus, als hätte man ihn als Puppe aus dem Kühlhaus geholt, und seine Kälte verwandelte die Feuchtigkeit der ihn umgebenden Luft in Reif. Aber nur ganz kurz. Dann vollendeten die auf ihm sitzenden Tropfen ihr Werk. Pantz fiel ・ wie alles andere zuvor ・ zu Brei zusammen.
Dieser Spot ging um die Welt. Ein Reporter hatte, kaum angekommen, sofort seine Kamera auf den Feuerwehrmann gerichtet, Pantz beim Brüllen gefilmt und wie er dem Kameraden vergeblich Zeichen gab, und natürlich hatte er weiter draufgehalten, als Pantz zum Führerhaus lief und, wie in einer Computersimulation, auseinander floss c das Eindrucksvollste, was seit Jahren über die Sender gegangen war.
Schaudernde Neugierde war geweckt Was war denn da los in Hellersdorf? Die Nachrichten blieben verworren. Ätzer? Sollte man nun in Panik verfallen? Nein, neinc Na, ja, sie breiten sich ungehindert um den Block herum aus, sind noch nicht zu stoppen. Aber warten Sie auf unsere nächste Lifeschaltung; dann erfahren Sie mehr.Immerhin wurden neben Feuerwehr und Polizei bald auch Anti-Terrorkräfte zur Untersuchung und Bekämpfung der Ätzer-Tropfen herangezogen. Und ein Wissenschaftlerteam, das den unbekannten Wesen den Namen Sikroben gab ・ als Umschreibung dafür, dass diese vielleicht Mikroben ähnlichen Wesen ・ waren es denn welche? ・ alle befallenen Produkte silizierten.
Am Rande des Geschehens landeten einige von Rahmans Leichenteilen bei der kriminaltechnischen Untersuchung. Wäre sie einen Moment länger der Wirkung der Tropfen ausgesetzt gewesen, hätte man nichts zum Untersuchen gehabt und keinen Kristall in der geschlossenen Hand entdeckt. So aber wurde er erfasst, untersucht, eingelagert, ging ein in den Datenwust, den die vielen Untersuchungen produzierten, denn auch andere Spezialisten hatten ihre halb silizierten Teile, aus denen sie vergeblich Erkenntnisse zu gewinnen versuchten.
Was in Hellersdorf wohl für unheimliche Kräfte am Wirken seien?
Na ja, zumindest habe er so etwas in seinem ganzen Leben nicht erlebt, erklärte der Einsatzleiter der Polizeikräfte in einem Moment ohne psychologische Beratung. Es scheine kein Leben zu sein, verhalte sich aber irgendwie so, vielleicht sei es eine Chemikalie, er kenne allerdings keine vergleichbare c nur was sollte es sonst sein? Ja, was denn nun? Liebe Zuschauer, wir werden Sie laufend über den weiteren Gang der Ereignisse auf dem Laufenden halten. (Warum konnte man den Zuschauern nicht einfach erklären, dass das Ganze ein übler Streich sei?)Die folgenden zwei Tage veränderten den Wissenstand über das Wesen der Sikroben nicht wesentlich, eher überhaupt nicht. Die Ätzer, wie sie in den Medien teilweise weiter genannt wurden, breiteten sich einfach ungehemmt aus ・ was gingen sie die aufgescheuchten Redaktionen an, die endlich etwas Stichhaltiges berichten sollten. Nein, sie konnten: Der Block in der Hellersdorfer Straße erlebte seine letzte Phase. Nachdem der zähe graue Brei ausgehärtet war, hatten die Sikroben der Natur eine glatte und harte Kappe von mehr als zwei Metern Dicke übergezogen. All die verschiedenen Stoffe, aus denen die Häuser zuvor bestanden hatten, existierten nun nur noch als Siliziumverbindungen. Die sich ständig weiter vermehrenden Tropfen mussten also die Elementarstruktur der Ausgangsverbindungen verändert haben, erklärten die Experten, die das nicht erklären konnten. Zumindest der Name des Vorgangs, also Silizieren, erwies sich insofern als zutreffend.
Allein die Frage, ob es überhaupt vorstellbar sei, dass bei normaler Außentemperatur Kernumwandlungen abliefen, füllte viele Talkshows. Nur eines bezweifelten inzwischen die wenigsten: Man würde fast die gesamte Bevölkerung Berlins evakuieren müssen. Natürlich nur rein vorsorglich und damit die notwendigen Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten.
Evakuierungen hatte es seit Generationen nicht mehr gegeben. Und jetzt gleich ganze Wohngebiete! Die meisten Menschen wollten natürlich in Berlin bleiben. Sie rechneten fest mit einer schnellen Lösung des Problems.
Diese Hoffnung verging ihnen innerhalb der nächsten drei Tage. Zwar umfasste der Katastrophenherd noch immer nur das eine Wohngebiet, aber er breitete sich stündlich schneller aus. Notfallsitzungen wurden einberufen. Nicht nur der Berliner Senat berief eine Kommission, die über Spekulationen über den möglichen Fortgang der Katastrophe und Statements nach dem Motto „wir müssten etwas tung bzw. „wir müssen zeigen, dass wir der Lage gewachsen sindg allerdings nicht hinaus kam. Für ganz Mitteleuropa wurden eine Parlamentskommission und ein Operativstab zur Sikrobenbekämpfung ins Leben gerufen. Notfallpläne wurden erarbeitet. Zumindest einige Bürger beruhigte das.
In Berlin betrieb man praktische Geometrie: Für einen Umkreis von zehn Kilometern um den Ausgangsherd wurde die Evakuierung der Bevölkerung vorbereitet, als erster Schritt ein Innenkreis von vier Kilometern Durchmesser durch die Einsatzkräfte geräumt und an dessen Grenze ein hundert Meter breiter Grenzstreifen eingeebnet, Platz geschaffen für die normalste Lösung aller offenen Fragen: die Armee. Bisher war der Katastrophenherd von der Größe her insgesamt noch überschaubar. In seiner Mitte tat sich gar nichts mehr, an den Rändern tobten die Sikroben. Also immer raufgehalten mit allen Rohren. Sollten andere nachdenken, ob sie ein geeigneteres Mittel zur Neutralisierung fänden. Bis dahin hätten EADS & Brüder das Problem wohl längst gelöst. Wenn man die Ätzer von allen Seiten beschoss, hinderte man sie, neue Nahrung zu erreichen, denn auf ihre harten Brei-Exkremente gedrängt mussten sie verhungern; wenn nicht, dann bremste man wenigstens ihre Ausbreitung und gewann Zeit für Forschungen. Nur eine tote Sikrobe war eine gute Sikrobe.
Luftaufnahmen des Geländes rund um den ehemaligen U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord zeigten eine ebenmäßig braune Fläche. Beinahe schön. Na gut. Einige private Notunterkünfte fehlten noch für die Menschen, die dort zuvor gewohnt hatten, und es gab ein paar Verkehrsbehinderungen. Aber „cunsere Soldaten haben die vorgesehene Einsatzlinie erreicht. c innerhalb von vier Tagen relative Ordnung hergestellt.g Das sagte der Einsatzleiter und dass Zehntausende Helfer rund um die Uhr im Einsatz seien.
Natürlich war diese Ordnung eine sehr relative, so in dem Sinn, dass kaum Kaufhäuser und Läden geplündert wurden und die Staureibereien glimpflich abgingen. Glück hatten jene Berliner, die Verwandte oder Bekannte einige hundert Kilometer entfernt besuchen konnten. Die verfolgten die Filmberichte von Staus und Prügelorgien am Rande der Flüchtlingstrecks fast schon wieder entspannt. Das lag hinter ihnen. Die jetzt in Berlin und Umgebung arbeiten mussten, waren doch zu bedauern.
Es gab aber auch Menschen, die fast normal weiterlebten, mit wachsender Entfernung zum Katastrophenherd immer mehr c
Eine abwechslungsreiche Unterrichtsstunde
S
Für mich reichte es. Manchmal warf sich die Zarge vor, sie wollte nur den Provokationen der Schüler zuvorkommen, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Sehr vage hoffte sie, einen jungen Menschen nach ihrem Ideal zu entdecken und zu fördern. Der sollte die Welt dann so verändern, wie sie es nicht geschafft hatte. Kleiner ging es bei ihr nicht. Und ausgerechnet ich musste das ausbaden.
Marie Kutasi, damals 10 bc Die meisten Lehrer hatten Angst vor mir. Das war schon ganz okay. Aber eigentlich nur, weil sie mich nicht verstanden, was nicht okay war. Die Zarge verstand mich eigentlich auch nicht. Aber sie akzeptierte, dass ich zum Beispiel Kleider und Röcke trug, obwohl ich damit aus dem Rahmen fiel ・ eigentlich aber eben gerade deshalb. Wenn alle gleich ausgeflippt herumlaufen, ist das doch müde. Und asiatischer Kampfsport war an unserer Schule zu der Zeit eben gerade nicht in.
Für die Zarge war ich deshalb die erträumte Ausnahme, jemand, der im Unterricht eine eigene Meinung vertrat und auch nicht umschwenkte, wenn sie oder die anderen eine andere hatten. Die meisten Schüler hatten sich längst angepasst.
Sonja Zarge arbeitete gern mit vernetzten Computersystemen, bei denen jeder Schüler an seinem Platz mitarbeiten konnte und sie sich heimlich bei einzelnen einklinkte, um Leistungen und Mitarbeit zu bewerten. Damit biete sie eine Art Muster der Gesellschaft im Kleinen, hatte sie in einer Stunde erklärt. Wenn jeder ordentlich mitarbeite, könne es ihm doch egal sein. Nur wenn er etwas Unerlaubtes mache, müsse er befürchten, ins Visier der Überwachung zu geraten. Das sei doch gut. Alle nickten solche präventive Verbrechensbekämpfung ab.
„Was?g hatte ich entsetzt gerufen. „Sie finden das gut? Na, ich nicht! Wenn ich mich nur sicher fühlen kann, weil mich ständig heimlich jemand beobachtet, dann verzichte ich. Und Sie sind auch noch stolz drauf! Ist ja widerlich! Kuscher und Kriecher! Und so ist dieser Staat?g Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich abwartend in der Klasse um. Nichts als Gesichter, die der Zusammenbruch der Schulstunde freute. „Was muss das für eine Gesellschaft sein! Keinem traut man und vielleicht kann man auch niemandem trauen? Lauter Staatsfeinde oder Verbrecher? Da ist wohl was falsch gelaufen! Also wenn das unser Staat ist, muss ich wohl auswandern.g
Daraus wuchs dann noch eine richtig interessante Stunde. Und ich lernte, dass man den Anderen am besten zu Nachdenken bringt, wenn man ihn provoziert. Allerdings habe ich mich von der Zarge nicht mehr so leicht provozieren lassen.
An jenem Vormittag, fünf Tage nach Rahmans Todessprung, von dem ich natürlich noch nichts wusste, hatte die Zarge vom Lehrerzimmer aus kontrolliert, wie viele Schüler das Startbild der geplanten Stunde aktiviert hatten. Ich hatte. Zilly, Fiete, insgesamt zehn. Wir waren noch nicht mit unseren Eltern auf der Flucht. Seit zwei Tagen blieben immer mehr dem Unterricht fern, meist unentschuldigt, weil ihre Familien wegen dieser seltsamen Sikroben zu entfernten Verwandten oder in Spontanurlaub flüchteten.
Sonja blieb noch einen Moment auf dem Flur vorm Klassenraum stehen. Atmete durch. Lehrerzimmermief wegblasen. Kein anderes Thema als die Berliner Katastrophe. Was sollte das für ein Unterricht werden, wenn sie andauernd an die angeblich bevorstehende Evakuierung der Schule dächte? Als sie endlich die Tür öffnete, saß die Klasse wie erstarrt da. Es war totenstill. Hatte sie etwas verpasst? Eine heiße Diskussion? „Um euch einen guten Morgen zu wünschen, ist es etwas spät. Aber um sich mit dem deutschen Wirtschaftssystem nach der Jahrtausendwende zu beschäftigen, ist es genau die richtige Stunde. Insofern wundere ich mich, warum nicht alle das Thema aufgerufen haben. Oder gibt es etwas Anderes, das wir jetzt diskutieren sollten?g Sonjas Blick schweifte durch die Reihen.
Zilly hob lässig seine Linke: „Marie war gerade philosophisch. Das passt nicht zu Ihrer Stunde. Aber wir können nicht so schnell umschalten.g
„Das wird sich noch zeigeng, antwortete die Zarge lächelnd. „Wir können auch philosophisch sein. Warum denn nicht? Worum geht es?g
Zilly erwiderte ihren Blick und noch drei andere. Ich sah nach vorn; wie so oft zog ich dabei die Schultern nach hinten. Der Rest der Klasse sah weg.
„Sie können ja nichts dafür. Sie sind Lehrerin. Sie müssen uns ja beibringen, dass alles so richtig ist, wie es ist. Aber wenn wir Menschen cg Ich stockte kurz. Wobei mir ja eigentlich so echt starke Volksreden locker über die Lippe kamen. „cwenn wir Menschen uns so sehr an der Natur vergehen, sie vergewaltigen, dann brauchen wir uns ja nicht zu wundern: Irgendwann rächt sie sich, die Natur oder Gott oder wie das heißen mag. Wir tun hier, als wäre nichts, und längst laufen die letzten Tage der Menschheit. Sollen wir uns jetzt vielleicht freuen, wie klug Deutschland sich solcher neuen Zeit angepasst hat? Morgen oder übermorgen ist es nur noch ein Fleck Pampe auf der Weltkarte und wir sind harter Fliegendreck. Ein paar Tage später Europa und der Rest. Jetzt rächen sich die Fehler unserer Urgroßeltern. Verstehen Sie? Natürlich verstehen Sie. Sie haben ja selbst davon erzählt. Warum sollen wir hier noch Unterricht machen, als wäre nichts?g
Zilly klatschte Beifall. „Machen wir Schluss!g
„Marie, als ich das mit der Rache der Natur gesagt habe, da habe ich eher an Regenwald und Umweltschutz und den Raubbau an den Reichtümern dieser Erde gedacht.g
„Umweltschutz ist gut. Wir sollten uns vor dieser Schule schützen!g Zilly verzichtete auf keine Chance, nach Lachern zu fischen ・ nicht einmal bei der Zarge.
„Ich weiß nicht so recht, was ich es erklären soll. Wir sollten eines nicht vergessen: Fernsehsender verdienen Geld mit Sensationen. Nicht, dass alles total falsch wäre, aber die Nachrichten werden eben aufgebauscht, zu Gruselstücken aufbereitet. Man darf nicht alles so nehmen, wie es dargestellt wird. Das müsst ihr einfach lernen.g Sonja zögerte. Man merkte, dass sie mit ihren Worten nicht zufrieden war, dass sie noch nach der richtigen Erklärung suchte.
„Sie halten die Bilder über die Katastrophe in Berlin also für Panikmache?g Bernds Stuhl stand nur auf den Hinterbeinen. Ernie sah seine Lehrerin scharf an. „Todesbreiszenen als Computeranimation? Toll. Aber warum bringen sie dann alle weg? Evakuieren Hunderttausende? Wohl bloß so zum Spaß, was? Sehen Sie sich um: Selbst hier ist schon die Hälfte abgehaun.g
„Zu der Sache mit dem Todesbrei fehlen uns die Hintergründe. Weißt du wirklich, was da im Einzelnen los ist? Diese Sikroben sind sicher für uns alle eine ungewöhnliche Bedrohung. Ich halte trotzdem nichts von Maries Armageddon-Idee. Die Existenz der Menschheit ist schon von so vielen Kriegen, Seuchen und Katastrophen bedroht worden, da werden wir auch diese Berliner Tropfen überleben.g
gGucken wir sie uns doch einfach an! Machen wir einen Ausflug! Wer mitkommen will, der meldet sich in der Pause bei mir. Also ich mach mich auf. Heute Nachmittag um drei gehts los.g Ich war dabei halb aufgestanden, damit mich niemand ignorieren konnte.
„Mach kein Quatsch!g Die blanke Angst klang aus Sonjas Ruf. Sonja, die Zarge, schluckte. Mir war so etwas zuzutrauen. Das wusste sie ja. Also korrigierte sie sich: „Ich komme mit. Du hast hoffentlich nichts dagegen. Beim nächsten Mal werten wir dann unsere Ergebnisse aus. Aber zum eigentlichen Thema der Stunde. Tun wir erst einmal so, als gäbe es keine Ätzer. Geht das in Ordnung, Marie?g
Sonja wollte mit der Ironie im letzten Satz die Kontrolle über die Stunde zurückgewinnen. Dabei sah doch jeder, sie wäre sie am liebsten raus gerannt. Natürlich war sie gegen die Behauptung, die letzten Tage der Menschheit seien angebrochen. Sie hätte den Kommentatoren, die das verbreiteten, sofort den Ton abdrehen, die Finger von den Tasten reißen wollen. Es wurden aber immer mehr. Und wie sollte sie die ungebremste Naturgewalt sonst erklären? Sonja versuchte, die Stunde durchzuziehen. Aber da war nichts zu retten. Wir waren genauso wenig bei der Sache wie sie. Zum Schluss schaffte sie nicht einmal ihre Zusammenfassung.
Zum Pausenbeginn meldeten sich zehn Schüler. Sonja wählte fünf aus. Mehr Platz war nicht in ihrem E-Car. Bestimmt hatte sie längst bereut, auf meinen Vorschlag eingegangen zu sein. Andererseits wollte sie verhindern, dass wir uns in unnötige Gefahr begaben. Das konnte sie am besten, wenn sie selbst dabei war.
Nach den Schulstunden stürmte sie zur Kita, um ihre Zwillinge abzuholen. Dann rief sie gewohnheitsmäßig ihre Mails auf. Jens Marder? c Ach, der von Näswerder, der lebte also auch noch und sogar ziemlich in der Nähe! c Aha, er hatte mit den Berliner Ereignissen zu tun ... Rahman tot? Verdammt! c
Sonja hatte die Mail zu Ende gelesen. Sie war nun noch wütender auf ihren Auftritt in der Stunde. Hätte sie sich nicht zumindest diesmal den Schlenker auf die Medien verkneifen sollen? In Berlin wütete die totale Vernichtung. Die Hilferufe, Flüchtlinge aus den betroffenen Gebieten aufzunehmen, waren keine der üblichen Panikmeldungen. Dann aber beruhigte sie sich wieder. Obwohl Jens scheinbar unmittelbar an der Katastrophenbekämpfung in Berlin beteiligt war, deutete er irgendein albernes Geheimnis an. Seine Schwur-Kugel wirke auf Insekten. Na, wenn er das für erwähnenswert hielt, dann konnte die Bedrohung durch die Sikroben wohl nicht so schlimm sein.
Und wenn doch, dann stießen wir bei unserem Ausflug bestimmt rechtzeitig auf Sperren, an denen man uns aufhielte. Wir kämen also nie in die tatsächliche Gefahrenzone. Die Zwillinge gäbe sie besser bei Frau Holzmann ab, am besten mit dem Hinweis, sie möge sie auch schlafen legen.
Zehn vor drei klingelte es.
„Mehr werden wir nichtg, erklärte ich. Dabei machte ich eine Handbewegung, dass sie uns alle einmal ansehen konnte. „Milter hat abgesagt. Seine Eltern erlauben ihm nicht mitzukommen. Da ist eben mehr Platz im Car.g
„Und eure Eltern?g fragte Sonja.
„Mein Vater kann mir nichts verbieten.g Blöde Frage! Ich schob den verklemmten Gerd auf den Platz neben der Zarge und klemmte mich hinten zwischen Jule und Fricke.
Sonja betrachtete mich im Rückspiegel. Meine dunklen Haare hatte ich zu einem Knoten zusammengesteckt. Das betonte das etwas zu breite Gesicht extra. Ob mir das mal jemand gesagt hatte? (Sie hat mir später erzählt, dass sie genau das gedacht hatte. Und dass sie mir eigentlich als Tipp so unter Freundinnen davon abraten wollte. Was sie damit ja dann später gemacht hatte.) Wahrscheinlich hätte ich das dann erst recht so gemacht. (Wie Recht sie doch hatte!) Außerdem trug ich ein leichtes Kleid mit weit ausgeschnittenem Dekolleté. Ausgerechnet jetzt? Das war Sonja dann doch zu hoch, dass ich das anzog, gerade wegen dieses Ausgerechnet-jetzt c Wär ja schlimm gewesen, wenn sie mich echt verstanden hätte.
Sonja erwischte sich dabei, dass sie krampfhaft nach etwas suchte, das sie beobachten und bewerten konnte, nach etwas, was sie vom eigentlichen Ziel des Ausflugs ablenkte.
Uns anderen ging es nicht viel besser. Auf den ersten dreißig Kilometern begafften wir alle schweigend die Landschaft, als hätten wir noch nie Wald gesehen. Jeder versuchte zwischendurch einmal, etwas betont Lässiges zu sagen. Aber niemand sprang drauf ein.
Die Strecke in Richtung Berlin war völlig frei, selbst in der Gegenrichtung begegneten uns nur wenige Fahrzeuge. Und wenn, waren sie hoffnungslos überladen. Ringsum flog Landschaft vorbei, mit viel Wald auf schnelle Erholung getrimmt.
„Kaum zu glauben, dass innerhalb von vier Tagen die meisten Berliner weg sein sollen.g Julia hielt es nun doch nicht aus. Sie musste etwas Wichtiges sagen. Etwas zu Berlin eben.
„Ein Teil vielleichtg, antwortete Sonja. „Die in unmittelbarer Nähe wohnen sicher. Und die sich den schnellen Urlaub leisten können. Ich denke, dass selbst viele Hellersdorfer nur in anderen Berliner Bezirken notdürftig untergebracht auf die Entwarnung warten. Bisher ist doch noch nie so etwas passiert. Alles, was wir aus der Geschichte kennen, ist schnell wieder beherrscht worden.g
Ich sah nach draußen, ließ die Alleebäume vorüber fliegen, aber in Gedanken stellte ich mir so einen Berliner vor. „Da hast du nun eine Wohnung mit viertausend uralten Büchern und lauter geliebtem Krempel und plötzlich sollst du das alles verlassen. Futsch für immer. Na, ein Glück: Ich hab solche Probleme nicht.g
„Stimmt. Ihr habt gar keine Bücher.g Wahrscheinlich wollte Gerd einmal witzig sein. Ich verpasste ihm einen Haken in die Seite, da bremste Sonja. Wir waren am Ortsausgang von Biesenthal in Richtung Berlin angekommen. Vor uns eine Straßensperre. So ein verunglückter Supermann beugte sich zum Seitenfenster.
„Wohin wollen Sie?g
„Wir wollten nach Berlin rein, einfach so. Ist das nicht erlaubt?g
„Nein, das ist nicht erlaubt. Sie brauchen eine Einladung oder eine spezielle Aufgabe im Rahmen der Katastrophenbekämpfung. Ansonsten müssen wir Sie in Ihrem eigenen Interesse bitten, das Chaos nicht zusätzlich zu vergrößern und umzukehren. War das verständlich oder muss ich es in kurzen Sätzen für Lehrer und Analphabeten wiederholen?g
Der Uniformierte lachte laut über seinen Witz, und Sonja verkniff sich die Antwort.
Als sie außer Sichtweite waren, schimpfte ich: „So ein Arschloch! Fand er das komisch? ObLs hier einen Umweg gibt? Halten Sie bitte mal an!g
„Denk da nicht einmal dran! An den anderen Wegen werden auch Kontrollen stehen.g Sonja sah so richtig froh darüber aus.
„Tja, Frau Zarge, wann war unser letzter Wandertag?g Ich lehnte mich zurück, hatte die Arme verschränkt. „Wir schaffen den Rest auch zu Fuß.g
Die Antwort war natürlich klar. „Vergiss es! Ich habe für euch die Verantwortung. So gefährlich, wie das hier ist, muss ich euch sicher wieder zu Hause abgeben.g
„Wenn das hier so gefährlich ist, dann kommt es auf ein paar Tage früher oder später auch nicht an. Dann sterben wir sowieso bald.g
Sonja erwiderte nichts. Ich schwieg. Was sollte ich weiter sagen? Die anderen schwiegen auch. Die Zarge hielt es für nötig, uns alle direkt bei unseren Eltern abzugeben. Das war am sichersten. Bei Jule und mir war niemand da. „Ich hab einen Schlüsselg, murmelte ich. „Auf Wiedersehen.g So verschwanden wir allein in unseren Wohnungen. Sonja hatte ein schlechtes Gefühl, aber sie konnte uns schließlich nicht mit zu sich nach Hause nehmen. Und beaufsichtigen. Wir waren doch fast sechzehn.
Am nächsten Morgen hatte Sonja Zarge in der 10 b Deutsch. Unsere beiden Plätze waren frei. „c Weiß einer von euch, wo sie stecken?g Niemand wollte etwas gehört haben. Eines war der Zarge ja klar: Vor den Tropfen abhauen und mich nicht abmelden, das passte nicht zu mir...
Am Nachmittag stopfte sie ihren Wochenendeinkauf ins E-Car. Was hatte ich auf der Rückfahrt gesagt? „cdann kommt es auf ein paar Tage früher oder später auch nicht an. Dann sterben wir sowieso bald.g Immer wieder ratterten die Sätze durch ihr Gehirn. Hanna und Nanette waren längst eingeschlafen, da griff sie zum Videofon.
Ausgerechnet mein Vater, auf den ich schon seit Jahren nicht mehr hörte, wollte eine Strafpredigt halten, kaum, dass sich die Zarge vorgestellt hatte. „Was haben Sie nur angestellt? Nennen Sie das aufpassen? Müssen Sie das nicht als Lehrerin? Wenn Marie was passiert, c Ich mach Sie fertig! Sorgfaltspflicht ・ haben Sie schon mal was davon gehört? cg
Sonja kam kaum zu Wort. Nachher ärgerte sie sich besonders, dass sie sich auch noch zu rechtfertigen versucht hatte. Sie habe uns schließlich in unseren Wohnungen verschwinden sehen. Was hätte sie denn noch machen sollen? Ein Kindermädchen anstellen? Doch eines wusste sie nun sicher: Wir waren nicht zu Hause.
Sonja grübelte, ob sie alles unternommen hatte, um unseren Ausflug zu den Tropfen zu verhindern. JensL Mail fiel ihr wieder ein. Hatte der nicht geschrieben, er sei bei der Polizei in Berlin? Er wohnte nicht einmal weit entfernt. Sie rief ihn an. Er war sofort am Videophon und freute sich.
c „Entschuldige, Jens, aber ich rufe nicht einfach so an. Ich hab Mist gebaut. Zwei von meinen Schülern, Mädchen aus der Zehnten, wollten unbedingt die geheimnisvollen Tropfen mit eigenen Augen sehen, und ich hab es nicht verhindert. Jetzt sind sie unterwegs, ich weiß nicht wie und wo. Eben von Eberswalde nach Berlin.g
„Na, vielleicht machst du dir zu viel Sorgen. Überall sind Sperren. Auf allen Straßen. Die Züge werden auch kontrolliert c Da kommt keine Maus durch. Bestimmt haben sie sie längst zurückgeschickt. So ein idiotischer Einfall aber auch. Das ist kein Massenevent. Begreifen die das nicht?g Jensf Stimme verriet, dass er der Angelegenheit keine größere Bedeutung zumaß.
„Da kennst du Marie Kutasi aber nicht. Was die sich in den Kopf setzt, das zieht sie auch durch. Bitte, ich möchte nicht schuld sein, wenn den beiden was passiert!g
Inzwischen schien Jens etwas eingefallen zu sein. „Gut. Also wie heißen die beiden. Die eine also Marie Kutasi und die andere?g
„Julia Lochmann.g
„c Lochmann. Also ich geb sie als vermisst weiter. Aber versprich dir nicht zu viel davon. Bei dem Chaos, das zurzeit in Berlin herrscht, fallen zwei Schülerinnen schwerlich auf. Soweit möglich hänge ich mich persönlich dahinter. Wenn ich dich schon mal an der Leitung habe: Wie schautLs aus? Willst du mich nicht endlich mal besuchen kommen? Je eher, desto besser. Am besten gleich am kommenden Samstag; da habe ich planmäßig frei. Das muss nach fünf Doppeldiensten auch mal sein. Versprechen kann ich natürlich nichts. Hier ist Druck noch und nöcher. Aber uns würde eine Ablenkung bestimmt gut tun c Wann warst du das letzte Mal so richtig auf dem Land?g
Von wegen Ablenkung c Sonja ahnte, dass mehr dahinter steckte. „Ja, ich komme. Dieses Wochenende passt sogar gut. Du ahnst ja nicht, wie erleichtert ich bin, mit jemandem wie dir sprechen zu können.g
„Was bin ich denn für einer?g
Sonja versuchte, auf den lockeren Ton einzugehen. „Na, zumindest kein Lehrer.g
„Also komm! Versprechen kann ich aber nichts. Wenn ich doch Dienst machen muss, erfahrL ich das erst kurz vorher. Die Ätzer ・ Du verstehst cg
Sina und Leonie kamen in JensL Zimmer. Sie blieben stehen, sagten kein Wort, sahen ihren Vater an, als wollten sie in ihn hineinsehen. Ihm wurde irgendwie komisch zumute. Er wusste plötzlich nicht mehr, woran er gerade gedacht hatte. Kaum war die Verbindung mit Sonja beendet, suchte er hektisch die Unterlagen über seine Schwurfreunde zusammen. Warum hatte er alles schleifen lassen? Wenn die Entwicklung so weiterging wie im Moment, dann würde bald keine Polizei Europas den tatsächlichen Aufenthaltsort irgendwelcher Bürger mehr wissen ・ oder es gab keinen Aufenthaltsort mehr. Jens merkte nicht einmal, dass die Zwillinge den Raum wieder verlassen hatten.
Ein Umzug zu viel
L
Zu Lisas Leben gehörten ständige Umzüge. Sie wurde überall gebraucht und konnte nie nein sagen. Bis vor einem Jahr hatte sie dabei immer Rahmans Kugel mitgeschleppt. Hatte sie betrachtet, an den Jungen gedacht, dessen Bild immer mehr verblasste c Beim letzten Umzug aber nahm sie die Hilfe einer Umzugsfirma in Anspruch. Die hatte ihr Pappkartons ausgeliehen. Wie hätte sie darin eine etwa zwanzig Kilo schwere Kugel unterbringen oder anderswo unbemerkt verstecken sollen? Lisa konnte sie nicht schleppen, ehrlicher: sie wollte es nicht mehr, und sie hatte einen Anlass gesucht, sich von dieser Erinnerung zu befreien. Im Innenhof unter dem Fenster ihrer Wohnung in Friedrichshain versteckte sie die Kugel unter einem Strauch. Das passte ihrer Meinung nach zu der Erinnerung. Lisa sah sich noch einmal gründlich um. Sollte sie wirklich noch einmal einer der ehemaligen Schwurschwestern und ・brüder zu einem Treffen einladen, dann holte sie die Kugel eben hier ab. So weit war die Cecilien- ja auch nicht von der Holteistraße entfernt. „Sollten die sechs mich wieder treffen wollen, dann finde ich das Ding bestimmt wieder.g
Hatte sie gedacht. Natürlich die Sikrobenflut nicht vorhergesehen. Überstürzt flüchtete Lisa aus Berlin. Durch die vielen Umzüge geschult suchte sie ihr Kleingepäck gründlicher aus als die meisten zu den Trecks drängenden Mitbewohner. An die Kugel dachte sie keinen Moment. Mit zwei Koffern tauchte sie auf Näswerder auf. Es wäre leicht gewesen, sie dort aufzuspüren, nur hatte Jens gerade zwei Tage zuvor bei den Näsies herumgefragt und da hatte niemand etwas von ihr gehört. Die Agentur in Berlin schloss. Dort hinterließ Lisa, sie würde sich wieder melden. An eine amtliche Ummeldung dachte sie diesmal nicht. Eigentlich müsste ich sagen, selbst Lisa dachte diesmal nicht an solche Bürokratie. So fand Jens zwar Unterlagen über ein ausgiebiges Wanderleben, aber das Haus, in dem sie jetzt angeblich wohnte, gab es nicht mehr.
Gitarrenzauberin Kleintransporter brachte uns bis Biesenthal. War ein netter Typ, der Fahrer, wenn auch etwas aufdringlich und in seinem Gequatsche kaum zu bremsen. Dass wir ihm zuwinkten zum Abschied, hatte er sich trotzdem verdient. Ein gutes Omen. Ich hoffte insgeheim, noch weiter nach Berlin heran mitgenommen zu werden, aber erst einmal mussten wir ja an der Sperre vorbei, an der Sonjas Kutschpartie gescheitert war. Natürlich war ich bereit, notfalls die restliche Strecke bis Berlin zu laufen. Aber Jule? Sie trottete seit mehreren Minuten wortlos hinter mir her. Was sie nur hatte? HättL ja nicht mitkommen müssen. Wenn ich etwas anfange, dann richtig. Ortsausgang. Weiter auf der Bundesstraße. Gänsemarsch. Gelegentlich drehte ich mich um, aber eher, um rechtzeitig ein Fahrzeug in Richtung Berlin zu entdecken, dass uns mitnehmen könnte, als für ein Gespräch mit Jule, die missmutig ihr Gesicht verzog und ihre Schuhspitzen beobachtete.
E
Kein Wort zwischen uns und das nun schon über einen Kilometer. Gelegentlich kam uns ein Schub Autos entgegen, meist sichtlich überladen. In unsere Richtung hatte noch keiner gewollt. Ein Glück, dass ich mich nicht aufs mitgenommen Werden verlassen hatte.
Schließlich hielt es Jule nicht mehr aus: „Also hättest du nicht wenigstens deinen Aufzug etwas abgrellen können? Musst du immer auffallen? Mit Kleid!? Und wozu die blöde Gitarre? Mich lässt du lauter schweres Zeug schleppen. Anstatt den Proviant besser aufzuteilen. Und überhaupt: Denkst du wirklich, wir schaffen die ganze Strecke zu Fuß?g
Ich lief mit gleich bleibendem Tempo weiter. „Fertig? Ich frag mich ja, warum du mitgekommen bist, wenn du nur meckern willst. Außerdem: Wär ich dir im Kampfanzug lieber? Ich nicht.g Dass ich diesmal gehofft hatte, mit Kleid eher mitgenommen zu werden, verschwieg ich lieber. Jule hatte sowieso immer Schiss. Männer waren Schweine für mich und Kraftfahrer sowieso.
Jule rannte ein Stück, holte mich ein. Eine Weile lief sie neben mir her. Schwieg. Fing wieder an. „Wolln wir nicht lieber umdrehn?g
„Kannste ja machen. Aber komm mir nachher nich angeflennt. Sowas wie das gibts nur einmal im Leben. Und jetzt verrat ichs dir: Ich weiß genau, was ich in Berlin will. Darüber konnte ich nur noch nicht reden. Wir haben bisher ja immer alles zusammen durchgestanden c Also. Stell dir mal vor, jemand sagt dir, nur die, die im Angesicht des funkelnden Todestanzes singen und spielen, werden in die kosmische Dimension eingehen. Was würdest du denken?g
„Dass er spinnt. Wieso?g Julia sah mich an, als bekäme ich gerade grüne Flecken im Gesicht. „Hört sich ganz schön bescheuert an.g
„Siehste! So ungefähr hätte ich das auch gesehen.g
„Und weiter? Was soll mir das sagen? Gerade jetzt?g
An einem Feld entlang führte ein Trampelpfad weg von der Straße. Ich sprintete einige Meter und warf mich neben den Stamm einer Pappel. Pause. Genüsslich biss ich in einen der Proviantäpfel. „Hast du von Kantha Inar gehört? Dem Meister?g
Julia setzte sich neben mich. Schüttelte den Kopf.
„ Ich auch erst nich. Ich hab vor ner Weile seine Prophezeiungen in die Hände bekommen. Also lange bevor hier alles losging. Da habL ich ja gezweifelt wie du. Nur so aus blanker Neugierde hab ich es mal überflogen und wieder weggelegt. Und dann baggert die Glotze alles wieder aus. Spritz dir das mal an die Wand: Der Kantha hat doch damals schon genau beschrieben, was die Menschheit verschlingen würde!g Ich holte ein kleines, zerfleddertes Büchlein aus der Tasche und schlug es auf. „Hör dir das mal an: Es wird ein Brei sein. Und an seinen allseitigen Zungen werden Tropfen blinken, die lustig tanzen und jeden anspringen, der ihnen ungläubig begegnet. Nach ihnen wird nichts sein als getrocknete Kruste eines Erdkörpers, der endlich überdrüssig ist, die faulen Früchte menschlichen Machtstrebens auf seiner Haut zu erdulden.g „Okay, bisschen quer, aber treffend. Ich hätts anders ausgedrückt. Nur was hat das mit deiner Gitarre zu tun?g fragte Jule.
„ Warts nur ab! Es geht ja noch weiter: Die aber, die die Saiten der Ewigkeit im Angesicht des Endes ringsum zum Klingen zu bringen, werden ausgenommen sein von der Endlichkeit der unwürdigen Körper. Sie werden erleben, was kleine Geister nie begreifen können.g Ich schleuderte den Apfelgriebsch weit aufs Feld, stand wieder auf und steckte das Büchlein zurück in den Rucksack. Jule hatte gerade noch den Titel lesen können. Der Anfang im Ende. „Klingt echt irre, oder? Und nun stell dir vor, ich seh die ersten Clips von Berlin auf dem Bildschirm! Voll getroffen! Genau wie in dem Buch! War mir komisch! Als hätte Kantha Inar wirklich alles vorher gewusst und wollte mir was sagen! Von wegen, es sei nur wenigen vergönnt und ein jeder müsse den Weg allein für sich finden. Deshalb musste ich los. Dass es mit der Zarge zusammen nicht funktioniert hat, war der letzte Beweis.g In dem Moment hob ich die geöffneten Hände zum Himmel wie die Prophetin, die gerade das Wort Gottes empfängt.
Jule fing an zu lachen. „Daher also die Gitarre! Die Saiten der Ewigkeitc Mann, bist du durchgeknallt! Und dein Fummel? Nimmt man für so was nicht wallende weiße Gewänder c und eine Harfe wie in Griechenland?g
Ich sah sie vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. „Dafür hab ich dich nun eingeweiht? Veräppeln kann ich mich allein. Und so was nennt sich nun meine beste Freundin! Mensch, wach auf! In ein paar Tagen ist alles hier öde Breiwüste. Niemand wird mehr herausfinden, wo du verschwunden bist.g
„Marie, ich cg Was hätte Jule sagen sollen? Sollte sie darauf herumreiten, dass sie mich mal wieder für verrückt hielt? Unter anderen Umständen bestimmt. Aber die Ätzer existierten, und sie gingen genau so vor, wie dieser komische Guru-Meister es beschrieben hatte. Jule zuckte also mit den Achseln, sah mich nicht an und lief weiter.
Zurück zur Straße. So viele Kilometer laufen, das war nun nicht das reine Vergnügen. „Komm lieber! Wir haben noch viel vor uns.g Aber schon hundert Meter weiter fing Jule von vorn an: „Glaubst du denn das wirklich, dass das ausgerechnet eine Prophezeiung für uns ist?g
Was hätte ich darauf antworten sollen? Wie ist das denn mit dem Glauben und dem Verstand, der dir etwas Anderes sagt? Ich antwortete so leise, dass es Jule kaum hören konnte: „Weiß ich, was ich glauben soll? Aber wenn wir einfach abwarten, bis dieser Brei Eberswalde überschwemmt, erfahren wir es nie. Das könnt ich mir nicht verzeihen.g Und nach einer Pause viel lauter: „Weißt du, dass die Welt am Ende ist, so oder so, das glaub ich schon. Genau deshalb werd ich ja nicht weglaufen. Und du kommst mit!g
Damit wandte ich mich wieder dem Weg zu. Das war auch nötig. Wir erkannten Soldaten am Straßenrand, und die waren wohl schon auf uns aufmerksam geworden. Eine Personenkontrolle. Das hätte mir gerade gefehlt. Glücklicherweise bog gerade rechts ein Trampelpfad von der Straße ab. Der wurde unserer. Schade! Wir würden viel latschen müssen. Mehrere Kontrollen hintereinander. Das bedeutete, von nun an waren Hauptverkehrsstraßen tabu.
Abends, am Waldrand, klopfte ich Jule auf die Schultern: „Nur Ruhe und keine Action, das ist doch uncool. Können wir später noch. Wenn wir dann noch leben sollten. Jetzt muss es brummen.g Dann packte ich die Gitarre. Sang, ein wenig falsch. „Ja, guck nur!g, antwortete ich auf Jules irritierten Blick. „Ich muss schließlich üben.g
Ausgeschlafen hatten wir nicht, morgens um halb fünf. Aber wir zogen weiter, und ich fand immer wieder Schleichpfade. Jule ahnte kaum, wie weit es noch war. Fragen mochte sie auch nicht mehr. Trottete einfach mit. Wunderte sich, als wir in Karow direkt zum Bahnhof liefen, keine Kontrolle da war und die Bahn tatsächlich Richtung Zentrum fuhr.
„Wenig zu sehen vom großen Grauen.g Ich lächelte zum Fenster hinaus.
„Warts nur abg, antwortete Jule, und in ihrer Stimme lag so viel Angst, dass sie nicht wagte, mich anzusehen. Ich merkte es trotzdem.
Die Ringbahn fuhr noch. Als wir allerdings am Bahnhof Frankfurter Allee weiter nach Hellersdorf wollten, standen wir vor einem vergitterten U-Bahn-Eingang.
„Wenn du denkst, ich frag jemanden und mach auf uns aufmerksam, dann hast du dich geschnitten. Die zehn Kilometer könn wir auch noch laufen.g
Aber gefährliche Kilometer! Wir hatten erst einmal keine andere Möglichkeit, als am Rand der Hauptverkehrsstraße entlang zu laufen. Einer, an der einen mit Sicherheit keiner mitnehmen würde, wo man aber von weitem gesehen werden konnte, und mit Posten war auch zu rechnen. Jule suchte nach ersten Zeichen der Katastrophe. Vorerst entdeckten wir weder Patrouillen noch Ätzerfelder. Die ganze Gegend schien irgendwie ausgestorben, kaum ein Fahrzeug kam uns entgegen. Einmal drei Busse hintereinander. Darin die Passagiere umgeben von Bewaffneten.
„Die denken, sie könnten die Menschen zu ihrem Glück zwingen.g Kopfschüttelnd sah ich den Bussen nach. „Is doch so was von sinnlos. Entgeht ja sowieso keiner seinem Ende.g
„Ich hatte Panik erwartet. Flüchtende Massen. Stattdessen werden sie mit Knastbussen weggeschafft.g Auch Jule waren die Bilder nicht geheuer.
„Die Fluchtwelle ist ja schon raus. Was weiß ich, warum jetzt überhaupt noch Menschen da sind, zumindest normale.g
„Das musst du gerade sageng, brummte Jule.
„Wieso? Hab ich je behauptet, normal zu sein?g Ich lachte. „Dann wär ich ja wohl nich hier. Würd brav in meinem Kaff warten. Oder mich evakuieren lassen, wenn das irgendein Kommandant so anordnet. Bloß, um paar Tage später trotzdem zu sterben. Pass lieber auf: Wenn die uns mit den Normalos zusammensperren, dann war die ganze Tour umsonst.g Aber, ehrlich gesagt, war mir allein schon die mehrspurige Straße nicht geheuer, die so verlassen nackt neben uns lag. Tot. Immer unruhiger suchte ich nach einer Abzweigung auf eine Nebenstraße. Zumindest die Gefahr einer Kontrolle war dann kleiner.
„Und was ist, wenn die Prophezeiung nichts als Zufall war?g Jule klammerte sich jetzt an meinen Arm.
„Hast immer noch nicht aufgegeben?g Ich brummte unwillig. „Na, ja, was willst du? Dann sterben wir eben. Die andern ja auch. Aber wir haben uns bewegt. Das ist immer besser. Du kannst ja immer noch umkehren.g
Jule war tatsächlich unschlüssig stehen geblieben. Schwankte, ob sie weiter mitgehen sollte. Sah sich suchend um. Gerade in diesem Moment war weit und breit kein Mensch zu sehen außer mir. Ich war nun schon fast 50 Meter weiter und tat so, als interessierte ich mich überhaupt nicht für sie.
„Marie, warte!g Endlich rannte Jule los. Ich ließ sie aufschließen, atmete auf. Ohne sie anzusehen, legte ich ihr einen Arm auf die Schultern. „Alles klar?g
Als Antwort ging Jule etwas schneller.
An der Landsberger Chaussee durchkämmten Soldaten die Häuser. „Da nehmen noch andere außer uns die Evakuierungsbefehle nicht ernst.g Jule lächelte. Ich natürlich auch.
Wir kamen Hellersdorf immer näher. Jule murmelte: „Ich weiß, ich nerve. Aber noch können wir umdrehen.g
„Das kannste aber laut sagen! Du nervst wirklich. Wir ziehen das jetzt durch und Schluss!g
Die Mühen der Soldaten, das Gebiet abzuschirmen, stachelten mich erst richtig an. Immer wieder Hinhocken oder Hinwerfen, von Deckung zu Deckung vorwärts. Mitunter musste ich Jule ganz plötzlich packen, auf den Boden schleudern, mit ihr an schwer einsehbare Stellen rollen. Das alles mit Gitarre und Kleid. Nicht, dass ich was bereut hätte. Sich an den Boden und Jule ankuscheln, warten, lauschen, weiter schleichen, Jule hinter mir. So war die Sache ja erst richtig kitzlig.
Inzwischen lungerten an allen Kreuzungen Streifen, die die leeren Straßenzüge musterten.
„Eine tote Stadt.g Ich lächelte dabei. Höchstens ein klein wenig verkrampft. „Wo kriegt man das sonst zu sehen.g
Julia sah mich schaudernd an. Nein, nichts verriet, ob ich das ernst meinte.
Unentdeckt erreichten wir den Blumberger Damm. „Scheiße!g knurrte ich, „Hier biste ja kilometerweit aufm Präsentierteller.g Über diese breite Straße mussten wir rüber. Drei Jeeps näherten sich. Fuhren vorbei. Entfernten sich wieder. Aber selbst, als es schon wieder völlig still war, blieb ich regungslos liegen. Konzentrierte mich. Ganz plötzlich stand ich auf und putzte mich seelenruhig ab. „So, jetzt aber los!g
Auf der anderen Straßenseite klärte ich Jule auf: „Wir müssten bald da sein. Nur noch durch den chinesischen Garten, hinter dem Kienberg kommt das Wuhletal. In dem Erholungsgebiet gibtLs keine Häuserblocks. Wahrscheinlich auch keine Streifen mehr. Irgendwo dahinter wüten diese Tropfen. Und jetzt über den Zaun!g
Jule sah sich unsicher um. „Na gutg, brummelte ich, „dann eben nicht!g Ich lief also die etwa 100 Meter weiter bis zum Pförtnerhäuschen des Parks. An dem verlassenen Drehkreuz blieb ich stehen. „Aber auf der Rückseite müssen wir wirklich übern Zaun. Guck dich schon mal nach einem Knüppel um. Wir wolln es nicht drauf ankommen lassen.g
Im chinesischen Garten herrschte gespenstische Stille. Kein Laut. Kein Vogel, kein Summen, nichts. Nur das Echo der eigenen Schritte. Eine krasse Spukatmosphäre ・ und das mitten am Tag.
Wieder eine Störung: Ganz langsam schwoll ein fernes Brummen zum Dröhnen an. „Hubschrauber!g Uns blieb nur ein Teehaus als Versteck. Ich drückte Jule an mich. gWir sind jetzt fast da. Meinst du, ich lass mich so dicht am Ziel noch aufgreifen?g Wir rührten uns nicht. Es dauerte lange, bis es wieder ruhig war.
„Die kreisen über dem Katastrophengebiet. Wär ja möglich, dass Verrückte sich freiwillig in Gefahr bringen.g Ich grinste, stieß Jule in die Seite. Aber die ließ sich einfach nicht aufmuntern. Glaubte die wirklich, ich hatte keine Angst?
Wir waren nur etwa hundert Meter Luftlinie von der Kienbergspitze entfernt. Standen an einer Gabelung. Der linke Pfad führte bergauf. Wir nahmen den asphaltierten Wanderweg rechts um den Hügel herum. Von den fehlenden Menschen abgesehen sah alles genauso aus, wie es eben in einem stadtnahen Erholungsgebiet aussieht. Asphaltiert für ältere Leute zum Spazieren im Grünen.
Dann der Blick ins Wuhletal. Richtiger auf das Feld, das vor Tagen noch das Wuhletal gewesen war. Das erste, was mir auffiel, war die freie Sicht. Kein Hochhaus, kein Plattenbau, kein Baum oder Strauch. So weit wir sahen, nichts als eine glatte Fläche, ein erstarrter, ein zugefrorener See. Allein seinen Rändern brodelte es. Ansonsten ödes, totes Graubraun. Die Wuhle verschwunden, die Froschteiche c Die waren noch ein paar Tage davor der Stolz der Hellersdorfer Naturschützer. Und nun alles Breiwüste.
Neben dem Weg zog sich ein Graben hin. Umwuchert von dunkelgrünen Gräsern und Schilf bis hoch auf die etwa drei Meter breite Böschung. Wir starrten noch entsetzt, verwundert, überrascht, wie auch immer, die fremde Landschaft vor uns an, hatten noch nicht richtig begriffen, was gerade passierte, da überwand die zähflüssige Masse die Sperre am Teich. Der Weg in den Graben war frei. Schnell schob sich der Silitbrei vorwärts. Die Ätzertropfen an seiner Spitze hüpften hin und her, als freuten sie sich über so viel frische Nahrung. Ich hatte den Asphaltweg verlassen, stand auf der Böschung, sah den Fluten zu. Jule war oben stehen geblieben.
„Faszinierend!g flüsterte ich, mehr für mich selbst. Ich starrte gebannt auf das Schauspiel: Die Tropfen an den Rändern funkelten in verschiedenen Blautönen. Sie hüpften ohne Beine wie Wasser, das aus großer Höhe auf eine Fläche gefallen ist. Grashalme, die sie berührten, erstarrten nach kurzem Aufschäumen. Sofort verschwand das Grün. Die Halme verwandelten sich. Glitzernde Eisblumen. Kurz darauf schmolzen sie zu grauem Brei zusammen. Lautlos. Geruchlos. Die Sonne wärmte mit voller Kraft. Wir merkten es nicht.
„Das warLs dann also.g Ich hockte mich hin. Vielleicht einen Meter von mir entfernt bahnten sich die hüpfenden Tropfen ihren Weg im Grabenbett. Ein richtiger Fluss blauer Lava. Mir war zum Baden zumute. Verrückt. „Bizarr! Einfach bizarr! Was meinst du, Jule, wollen wir so sterben?g
„Spinnst du, Marie? Hör endlich auf damit!g Jules Stimme überschlug sich fast.
„Schon gut! Reg dich ab!g
Ganz hatte mir dieses Etwas den Verstand noch nicht abgeschaltet. Er warnte mich noch. Das war ja kein irrer Film. Das war real. Trotzdem so was von harmlos. Wenn man nur guckte, beinahe niedlich. Unwirklich vor allem. Selbst Jule kam näher heran. Ich spürte sie hinter mir. Spürte, sie hatte irgendwie den Moment verpasst, an dem sie mich hätte festhalten können. Hörte sie keuchen, und da besiegte mich ein Rausch. Ich konnte einfach nichts gegen den Sog ausrichten. Begann zu tanzen. Drehte mich im Kreis. Konnte kaum noch etwas sehen. Nur noch Jule, die mich entsetzt anbrüllte: „Bist du übergeschnappt? Vergiss deinen Meister...g Ich drehte mich einfach von ihr weg.
Die ersten Tröpfchen waren auf einen halben Meter heran. Zu Jule vielleicht eineinhalb Meter.
Was sang ich da nur für einen Quatsch?
„Weißt du, ist das nicht schön?
Da ist der Tod. Wir könnL ihn sehen,
nicht verstehen.
Unser irdisch Jammertal
war einmal.
Ende aller Not. Bald ist alles hier vorbei ・
einerlei.
Für die Bäume, Pflanzen, Tiere ist alles so wie immer ・
niemals schlimmer.
Ihnen ist es einerlei,
dass bald alles ist vorbei.
Deshalb haben sie vom Glück
auch das allergrößte Stück.g
Plötzlich rief ich mit veränderter Stimme: „Jetzt lass mich das mit der Gitarre ausprobieren! Mal sehen, ob wir in kosmische Sphären aufsteigen.g
Jule kreischte: „Marie, komm! Wir wollen gehen! Wir haben gesehen, was wir wollten. Wir können jetzt nach Hause. Wir cg
Aussichtslos. Auf meinen Lippen lag dieses Lied, das ich noch nie zuvor gehört hatte. Als ob eine fremde Kraft mir Reime in den Mund legte. Etwas trieb mich, Jule mein Gefühl zu erklären: „Ich bin nicht ich. Das ist unheimlich. Schrecklich und schön zugleich. Ich kann mich wie eine Fremde sehen. Ich greif in die Saiten, ich kennL das Lied nicht. Ein wunderschönes Lied, ein wunderschöner Tanz. Wären nur nicht die tödlichen Tropfen so nahe! Ich will mich ja wehren. Es fällt mir nur so schwer. Sind das die sphärischen Klänge?g
Inzwischen drehte ich mich wieder langsam im Tanz. Sah nun Jule vor mir. Sah sie stehen wie eingefroren in einen Albtraum. Sah, wie sie mich anstarrte. Hilflose Angst in den Augen. Nur noch Sekunden und die Ätzer hätten mich erreicht. Jule wollte etwas rufen. Oder mich schlagen, damit ich endlich zu mir käme. Ganz deutlich sah ich ihr das an. Sie war so bedauernswert unentschlossen c Oder?
Da stoppte ich. Zitterte.
Was war das? Was hatte Jule? Ihr Blick ging an mir vorbei, durch mich hindurch. Hatte auch sie die hypnotische Kraft des Fremden erfasst? Ja, das musste so sein, aber irgendwie c
Ich hörte auf zu spielen, zu tanzen. Rief Julia an, fast schon wieder ich selbst: „Was ist? Hey? Hallo? Siehst du Gespenster? Hey, ich binLs! Ich leb noch! Is ja schon gut, ich hab mich nicht verändert. Komm, vergiss Kantha Inar!g
In Zeitlupentempo streckte Jule ihren Arm aus. Sie deutete auf die Front der Ätzer. Ich drehte mich um, suchte, was Jule so verwirrt hatte. Stutzte. Wollte nicht glauben, c Fragte leise, fast furchtsam: gDu meinst cg und Jule antwortete: „Na guck doch hin!g
Normalerweise antworte ich auf so was Was meinst du, was ich die ganze Zeit mache? aber diesmal stierte ich weiter ungläubig auf das Gras. Ich stand ja fast schon in der Mitte eines Halbkreises! Ohne Jule wäre mir das vielleicht nie aufgefallen. Um mich herum hatten die Ätzer-Tropfen zuerst die Gräser gefrostet wie an den anderen Stellen. Dann aber musste sie etwas gestoppt haben. Die Tropfen waren selbst erstarrt. Mein Halbkreis war ein Stück Eisblumenwiese. Überall sonst schwemmten die Ätzer mit ihrem Brei über den Weg.
Jule flüsterte: „Spiel weiter! Bitte, spiel weiter!g
Ich schaute sie zweifelnd an. „Du meinst wirklich, ich c?g
„Was denn sonst?g
Hektisch versuchte ich eine neue Melodie zu improvisieren. Es wollte einfach nicht gelingen. Mein Lied war weg! Ich rang der Gitarre nur ein Wimmern wie unter Schmerzen ab. Es musste doch so schnell gehen!
Endlich ein einfacher Rhythmus. Ich richtete die Gitarre wie eine Maschinenpistole auf die Tropfen. Hinter mir deutete Jule auf den erstarrten Wiesenabschnitt: „Da! c Guck doch! Und da! cg
Ich schlug in die Saiten wie besessen. Nein, nicht mehr unter der Wirkung irgendeiner fremden Kraft, sondern im Gefühl der Freude über einen unerwarteten und unverständlichen Sieg. Es ging, es ging!
Wir merkten beide nicht, dass fünf Soldaten durch das Unterholz auf uns zu stürmen. Überrascht, verwirrt, nichts begreifend standen wir plötzlich zwischen lauter uniformierten Männern. Wurden gepackt. An den Armen gezerrt, weg von dem Weg, weg von den Ätzern, raus aus der Gefahrenzone. Schrien, schlugen um uns. Nein wir versuchten es nur. Die Griffe waren fest. Unsere Füße hoben vom Boden ab.
„Seht doch hin! Es ist gelöst! Sie sind nicht gefährlich. Man muss nur spielen. Mit der Gitarre. Dann hören sie auf! Glitzern wie cg
Jule schimpfte. „Heh, hört ihr! Wir wollen nicht sterben. Wir haben dort niemand drin verloren! Wir haben nur cg
Wir verstummten fast gleichzeitig, sanken erschöpft zusammen, rührten uns nicht mehr. Die Beruhigungsspritzen wirkten. Die Gitarre blieb unbeachtet liegen.
Später, als ich dem Arzt von meinem Spiel mit der Gitarre erzählte, als ich erzählte, was ich selbst nicht verstand, dass also mein Spiel die Kraft der Ätzer für einen Moment überwunden hatte, war der Weg am Kienberg längst von gleichförmigem Silitbrei überschwemmt. Und mit ihm die Gitarre.
Man hatte uns zur Notbehandlung ins Krankenhaus Eberswalde geschafft. Der Aufnahmearzt lächelte mitleidig. „Soso, also eine Gitarrecg
Ich wollte ihn gerade anbrüllen. „Natürlich eine cg, da traf mich dieser Blick. Ich ließ mich ins Kissen zurück fallen. Sagte kein Wort mehr.
Schon am nächsten Tag wurden wir entlassen. Das Krankenhaus war überfüllt.
Wir hatten uns abgesprochen, nicht mehr von der Sache mit dem Gitarrenspiel zu erzählen. Sonst hätten sie uns vielleicht da behalten. Uns fehlte doch nichts.
Jule versuchte es noch einmal bei der Zarge. Die hörte sie aufmerksam an. Dann sagte sie: „Ach, Jule, weißt du. Ich wünschte auch manchmal, dass sich Probleme so leicht lösen ließen.g
Wie zertrümmert hatte sich Jule danach bei mir ausgeheult. „Nicht einmal die glaubt mir!g
Muss ich zugeben, wie fertig ich selber war? „Wieso hätte sie auch?g antwortete ich. „Das ist alles so absurd, das sollten wir besser mit ins Grab nehmen. Im Moment hab ich gestrichen die Schnauze voll davon, die Welt zu retten. Scheiß Kantha Inar! Und ein Haufen Verrückter stellt für die die Diagnose verrückt ...g Ich hockte mich hin, legte Jule die Arme auf die Schultern, wartete schweigend, worauf auch immer. Sprach nach einer Weile weiter. „Ich hab alle Dateien aus dem Internet runter geladen. Gelesen. Die Stelle, die mich vor kurzem noch so gefesselt hat, weil sie mir so prophetisch vorgekommen ist, ... Weißt du, davor und dahinter klingt alles ganz anders. Echt versponnen. Total ernüchternd. Ich hab wohl genau jene Sätze herausgefischt, die zu diesen Ätzern passten.g
Wir schwiegen zusammen.
Dem Meister strömten die Jünger zu Tausenden zu. Sie verschwendeten das letzte Papier für Weltuntergangspamphlete und erklärten den Silitbrei zu einer ehrlicheren Welt, die unsere dem Untergang geweiht ablöst. Ein Glück, dass ich offenbar noch nicht ganz so abgedreht war. Trotzdem. Bei uns beiden war doch tatsächlich etwas Unerklärliches passiert c wenn auch nicht das, was dieser Prophet vorhergesagt hatte. „Ich begreif einfach nicht, wozu das Ganze gut sein sollte. Die Welt ist einfach nicht gerecht! Warum mussten ausgerechnet zwei wie wir das entdecken? Was man uns nicht glaubt. Logisch. Wir habenLs zwar erlebt, aber als mein eigener Vater hätt ich mich ausgelacht! Ich verfolg die Berichte und Karten, wie der Ätzerherd größer wird, und niemand weiß einen Weg dagegen ・ und wir wissen ihn und trauen uns nicht, ihn weiterzusagen, um nicht in die Klapse zu kommen! Krasser gehtLs nicht. Ob wohl ordentliche Forschung ohne unsern Esoterik-Scheiß die Gefahr besiegen wird? Da wär ich gern bei. Statt dessen ärger ich mich mit Chemie- oder Biolehrern rum.g
„Komm, reden wir nicht mehr davon! Das ist abgegessen.g
„Na gut.g Ich lächelte wieder. „Du sollst auch mal das letzte Wort haben.g
Zwillinge im Doppelpack
Petra hatte als Kind die Idee gehabt, die eigentümlichen Kugeln könnten aus dem Weltraum gekommen sein. Später konnte sie sich nicht mehr vorstellen, ohne gründliche Untersuchung schnelle Schlüsse zu ziehen. Aber das hieß ja nicht, dass sie nicht verrückt geblieben wäre. Ihr Ideal waren allseitige Genies. Im Geheimen hoffte sie, ein Michelangelo der Neuzeit zu werden. So begann sie nach der Schule gleich mehrere Studien nebeneinander. Bionische Systeme, Randgebiete der Elektronik und Informatik. Bis zur Geburt ihrer Zwillinge verlief ihr Leben trotzdem fast normal. Sie lebte mit ihrem Jochen in der Erwartung, mit ihm alt zu werden. Dann aber platzte die Beziehung. Ausgerechnet die Zwillinge waren der Anstoß dafür. Aus Jochens Sicht hätte Petra selbstverständlich nach ihrer Geburt die Karriere als Wissenschaftlerin abbrechen oder zugunsten ihrer Mutterrolle wenigstens wesentlich einschränken müssen. Genau das aber wollte Petra Herbst nicht. Die Kinder zu vernachlässigen kam ihr nicht in den Sinn, aber natürlich nicht zu Lasten der Wissenschaft. Wenn nicht mit Jochen, dann eben ohne ihn. Warum sollte sie ständig Kompromisse erbetteln? Sie warf ihn raus. Vielleicht war die Schlussfolgerung aus den Monaten des Streits etwas übertrieben ・ und sie hätte sie auch nie so ausgesprochen ・ aber irgendwie war sie danach überzeugt, dass es offenbar nur einen Menschen gab, auf den sie sich voll und ganz verlassen konnte. Sie selbst.
Sie bereute nichts. Nur ihren Töchtern gegenüber hatte sie immer ein wenig ein schlechtes Gewissen. Es fehlte bei einem Tag mit 24 Stunden ständig an gemeinsamer Zeit. Die Fortschritte, die die Mädchen in ihrer Entwicklung machten, waren einfach zu wenig Ergebnis der mütterlichen Arbeit. Dagegen war ihr Forschungslabor ein sichtbarer Erfolg. Petras Dissertation hatte zu den besten der zurückliegenden zehn Jahre gehört. Als sie trotzdem kein lukratives Angebot bekam, kehrte sie der Universität den Rücken und machte sich selbstständig. Marcus hatte sie schon während des Studiums kennen gelernt. Er wurde ihr erster Assistent. „Also, wenn ich die Chance hätte, für den Durchbruch voll zuzuschlagen, dann würde ich natürlich selbst ... Aber du bist besser, und da stell ich mich lieber in deinen Windschatten. Du wirst mir schon genug von deinem Erfolg übrig lassen.g Petra fragte sich manchmal, ob Marcus heimlich in sie verliebt war. Wenn ja, so zeigte er es zumindest nicht offen ・ und sei es, weil Petra dieses Gefühl nicht erwidern würde. Das wusste er. So blieb er der erste unter inzwischen vier männlichen Assistenten, die sich gern ihrem strengen Regiment unterzogen. Ein wenig genossen beide ihre merkwürdige Beziehung, die etwas von Sherlock Holmes und Watson an sich hatte, nur dass Petra ihre aufkeimenden Ideen eben an MarcusL Reaktion prüfte.
Andauernd wähnte sich Petra kurz vor dem Durchbruch. Es erschien ihr selbstverständlich, dass sie die erste wäre, die die Fähigkeit des menschlichen Gehirns zum kreativen Lernen in die Steuerung komplexer technischer Systeme übertrüge. Und zwar vollständig. Damit eine Jahrhunderte lange Diskussion über den menschenähnlichen Computer beendete. Bevor es aber so weit war, übernahm ihr Labor auch Aufgaben, die mit dieser Thematik nichts zu tun hatten, wenn nur der Auftraggeber vernünftig bezahlte. Leider brauchte Petra immer Geld. Wenn ihr doch endlich etwas gelänge, um unabhängig zu werden, wenn sie doch endlich eine echte Chance bekäme! Sie würde nicht zögern. Sie würde siegen. Wie oft lief sie wie eine Tigerin im Käfig umher und träumte laut ihren Durchbruch. Marcus stimmte ihr meist in bedächtigem Ton zu. „Was sollten wir denn tun?g war dabei sein Lieblingsspruch. Aber Petra hatte auch nicht wirklich Antworten auf ihre Fragen erwartet.
Die Zeit auf Näswerder lag für Petra in dunklen Vorzeiten. Idyllische Kindheit? Ihre war bestimmt keine. Und dass sie da in Rahmans Hundehütte gemeinsam abgehoben waren, das war auch irgendwie nur ein Teil davon. Ein Haufen Kinder, die einmal der Rolle als laufend Geprügelte entgehen wollte c und es doch nicht schaffte. Fast hätte sie JensL Mail vor dem Lesen gelöscht.
Hallo Freunde aus Näswerder!
Was wollte Jens? So richtig deutlich wurde es aus seiner Mail nicht. Gut, die Berliner Ereignisse, die beschäftigten zurzeit jeden. Gehörte er etwa zu diesen sich schnell ausbreitenden Spinnern, die das Ende der Welt kommen sahen und sich mit allerlei Hokuspokus zu den Auserlesenen der letzten Tage erklärten? Abschied nehmen von allem Irdischen und so? Bloß nicht herum spekulieren. Anrufen!
Es meldete sich eine Frau. Janine Marder. Aha, glücklich verheiratet war er also. Nein, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, behauptete die Stimme auf Petras Frage, ob es nicht abwegig sei, angesichts der Sikrobenkatastrophe sich in der Nähe von Berlin treffen zu wollen und warum nicht alle runter zu ihr nach Leipzig kämen c Nein, Jens bekomme Informationen aus erster Hand, c wenn Sternekop wirklich bedroht wäre, also in den nächsten Tagen, dann wüsste er das, c nein, sie seien selbst auch noch da, kein Grund zur Beunruhigung. Und es habe mehrere von früher in die Umgebung von Berlin verschlagen. Diese Janine sagte tatsächlich von früher, als wüsste sie über alles Bescheid, gehörte mit dazu.
Petra zuckte mit den Schultern. Wichtiger war die Information aus erster Hand. Warum sollte sie in ein paar Tagen tot sein? In Berlin vielleicht. Selbst bis an den Rand von Leipzig hatte es Tausende Flüchtlinge geschwemmt. Den Fernseher konnte sie schon gar nicht mehr anschalten. Kein Wunder, dass überall Panik um sich griff. Aber selbst, wenn diese Tropfen wirklich so gefährlich wären, früher oder später fände jemand ein Mittel gegen sie. Sogar ihr Institut hatte einen Container bekommen. Vorgegebene Testreihen, die in den kommenden zehn Tagen abzuarbeiten waren. Ausgerechnet ihr Labor c Ihre Möglichkeiten waren nun wirklich für solch einen neuen und komplexen Forschungsgegenstand viel zu klein. Einen Versuch war es natürlich wert und Überstunden sowieso. Trotzdem sollte sie sich eine Pause gönnen.
Sie suchte auf der Karte dieses ominöse Nest Sternekop heraus. Das war also in Brandenburg und damit in bedrohlicher Nähe von Berlin. Wenn nur ein Viertel der Horrormeldungen zuträfe, dann rückte die Vernichtungswoge immer näher, und anstatt wenigstens auf die andere Seite der Alpen zu flüchten wie viele ihrer Nachbarn, sollte sie dem Katastrophenherd noch entgegen fahren? Andererseits, so überlegte sie, dürfte ein Kriminalkommissar wohl so viel Verantwortungsbewusstsein besitzen, niemanden unnötig zu gefährden. Sie aktivierte eine Sikroben-Ausbreitungssimulation. Unter Berücksichtigung aller bisher bekannten Sachverhalte würde der Rand der Invasion Sternekop frühestens in sechzehn Tagen und etwa zehn Stunden erreicht haben. Natürlich nur, wenn bis dahin kein Gegenmittel gefunden war. Noch bei diesem eigentlich wenig wahrscheinlichen Extremfall bestünde also vorerst keine unmittelbare Gefahr.
Tatjana und Martina, meist Jana und Tina gerufen, hatten Ferien. Petra hatte sich sowieso fest vorgenommen, möglichst viel mit ihnen zu unternehmen. Warum sollte sie die Mädchen nicht bei dem Ausflug mitnehmen? Die Landschaft sah auf der Karte verlockend aus: Rundum Wälder und Seen; Pferde für die Zwillinge wären bestimmt auch da. Ohne die blöden Tropfen in der Nähe schien das da wirklich ein ideales Plätzchen für einen längeren Urlaub zu sein. Einen kleinen Ausflug konnte sie sicher riskieren. Sie erführe dort Sikroben-Neuigkeiten aus erster Hand. Vielleicht wäre auf JensL Grundstück auch Platz für ein Kinderzelt? Sollte sie die beiden mitnehmen? Oder sie lieber bei den Großeltern abgeben? Aber was müsste sie sich dann alles anhören auf Näswerder.
Also mitnehmen. Umkehren konnte sie immer noch.
Jana und Tina sprudelten vor Erwartungen über. In diesem Jahr waren sie noch nicht einmal gemeinsam verreist. Sie tobten auf den Rücksitzen wie lange nicht mehr, aber Petra blieb beim Fahren ruhig und entspannt. Wozu hatte sie Automatik?
Die letzten vierzig Kilometer. Eine idyllische Waldlandschaft. Unglaublich: Ganz in der Nähe lauerte der Tod?! Alle Fernsehsender hatten über gewaltige Flüchtlingsströme berichtet, hier aber verkehrte kaum ein Fahrzeug. Waren denn alle schon weg? Oder trafen gerade die unbekümmertsten Optimisten und Spinner zusammen? Hatte sie unterwegs eine Sperre verpasst? Nein, das war nicht möglich. Sie war auf Bundesstraßen unterwegs, bog gerade erst von der nach Berlin ab.
Die letzte Abzweigung führte sie auf einen Weg, der für E-Car-Verkehr nicht gedacht zu sein schien. Petra hätte sich nicht gewundert, plötzlich einer Pferdekutsche aus der Zeit der Grafen und Herzöge zu begegnen, und das Gebäude, das dann aus dem Buschwerk auftauchte, hätte gut in die Pferdekutschenzeit gepasst. „Ein Hexenhaus!g jubelte Jana auch gleich.
Petra hupte. Eine Frau kam ihr entgegen. „Du also bist Petra. Ich bin Janine. Schön, dass du gekommen bist. Wir dachten schon, es würde sich niemand mehr hierher trauen.g
Jens tauchte in der Haustür auf. Oh Gott! Petra verkniff sich mühsam das Lachen. Aus der Mail wusste sie, dass er Kriminalkommissar war ・ nur im Moment kam er ihr in Shorts und mit einem Bernhardinerkopf auf dem T-Shirt entgegen.
Jana und Tina schubsten sich gegenseitig aus dem alten E-Car. Streckten der fremden Frau die Hände entgegen. Janine stutzte und starrte die beiden wie Geistererscheinungen an. Petra verfolgte die Geste verwundert. Endlich rief Janine: „Das sind deine Kinder?g
Belustigt antwortete Petra: „Ja, wieso? Was c Hast du etwas dagegen?g
„Warteg, unterbrach Janine sie aufgeregt. „ c Sina, Leonie, wo steckt ihr denn?g
Es hörte sich an, als polterten alte Kisten auf Rädern die Treppe herunter. „Was ist denn, Mama?g Dann standen die Marder-Zwillinge in der Tür, stoppten, gafften ungläubig auf die Herbst-Zwillinge und stotterten: „Das sind ja wir?!g Unsicher gingen sie auf die Gäste zu. Die Mädchen hielten einander auf Armeslänge voneinander weg, um sich zu betrachten. Aber schon rief Leonie: „Wollt ihr reinkommen?g Im nächsten Moment schien der Spuk verschwunden.
Tatsächlich ähnelten sich die beiden Zwillingspärchen so sehr wie eineiige Vierlinge. Während die Frauen den Mädchen noch entgeistert hinterher sahen, murmelte Jens für sich: „Das also auch noch.g Laut rief er: „Da haben wir ja einiges zu bereden.g
Jens half Petra, die Sachen aus dem Auto ins Gästezimmer zu tragen. Sie waren gerade fertig, da tauchten die vier Mädchen wieder auf der Treppe auf. Janine hatte zugestimmt, dass Sina und Leonie bei Jana und Tina draußen im Zelt übernachten durften. Alle vier sagten begeistert zu, sich zu benehmen, und von nun an hörte man sie nur noch gelegentlich im Garten toben.
Die drei Erwachsenen saßen nachdenklich auf der Bank an der Hauswand. Janine sah die ganze Zeit zu Jens hinüber. Spiegelbilder ihrer Töchter. Von einer Schulkameradin ihres Jens vorgeführt. Um das zu verkraften, hätte sie schon drei Doppelte hintereinander gebraucht. Sie wirkte so frustriert, dass sich Petra wieder fasste und sich ausmalte, was wohl gerade durch Janines Kopf gehen mochte. Armer Jens. So unschuldig und nun das c Deuten konnte Petra das Doppelzwillingsbild natürlich auch nicht. Und es war auch zu unvermittelt gekommen für irgend eine halbwegs sinnvoll erscheinende Erklärung. Also abwarten.
Jens lehnte sich betont locker zurück. „Na, wie war die Fahrt?g fragte er, und dabei sah er Petra erwartungsvoll an. Als ob ausgerechnet das die Frage gewesen wäre, die ihn interessiert hätte.
„Na ja, ganz gutg, antwortete Petra belustigt. „Ich hatte schon noch etwas Chaos erwartet, Staus voll flüchtenden Trecks und so. Es lief aber alles ab wie eine normale Ferienfahrt.g Wie zur Untermalung übertönte irgendwelches Gelächter die ferne Krötenmusik.
„Na, warum sollen sich die Leute denn verrückt machen?g Jens hatte die Arme hinter der Lehne ausgestreckt. „Vorgestern warLs noch schlimm, stimmt. Inzwischen ist alles zur großen Schlacht gerüstet. Die Hellersdorfer haben ihre Übergangsquartiere bezogen und warten. Mag man von dem Gegenangriff halten, was man will ・ ich halte nichts davon ・ er bringt aber bestimmt einen solchen Zeitgewinn, dass die Forschung das entscheidende Gegenmittel finden kann. Sollten diese Sikroben den Angriff überstehen, sind deinesgleichen gefordert.g
„Findest du deinen Optimismus nicht voreilig?g Petra grinste. „Aber stimmt. Selbst mein Labor hat einen Teilauftrag bekommen. Da ist der Erfolg der Forschungen wohl nur eine Frage der Zeit. Erfolg muss man eben haben. Im rechten Augenblick seine Chance erkennen und sie ausnutzen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie kalt uns mancher abservieren will. Eingebildete Ignoranten, die meinen, weil Forschung zu mehr als 90 Prozent Schweiß sei, stellt sich mit mehr Schweiß automatisch der Erfolg ein. Das sind dann dieselben, die dann aus den Mühen der Forscher ihre Knete machen. Und sich eins ablachen über solche Kreativlabore wie meins. Na, ich will euch nicht mit meinem Frust belästigen. Dafür ist das Wetter zu schön.g
„Aber eine Spur in der Sikrobensache hat keinerg, murrte Jens. „c Vielleicht stimmtLs. Sollen sich Leute darum kümmern, die die Mittel dafür haben. Grundsatzdiskussionen dieser Art höre ich jeden Tag. Dafür habe ich euch nicht eingeladen.g Jens beobachtete seine Gesprächspartnerinnen. Würde es später einen besseren Moment geben? Was hatten die Kugeln mit den Zwillingen zu tun? Wenn er nur eine Idee hätte c Er versuchte es trotzdem. „Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, die Kugelbesitzer aus Näswerder zusammenzuholen. Ich bin nämlich auf etwas Seltsames gestoßen cg Dann erzählte er drauflos von den Hornissen auf seinem Grundstück und dass er sicher sei, seine Kugel stecke dahinter.
Belustigt beobachtete Petra Janine. Die presste die Kuppen ihrer Finger aufeinander ohne hinzusehen. Auch Petra erwartete, dass Jens endlich etwas zu den beiden Zwillingspärchen sagte. In gewisser Weise beneidete sie Janine inzwischen. Konnte die Sorgen haben! Ein zehn Jahre zurückliegender Seitensprung! Ein müdes Lächeln c Na, an Janines Stelle vielleicht nicht, aber trotzdem. Nur, wenn es keinen biologischen Zusammenhang ・ und da war sich Petra sicher - zwischen den Zwillingspärchen gab, welchen dann? Ein billionstelwahrscheinlicher Zufall? Welcher? Jens als heimlicher Samenspender, und diese Spermien waren zufälligerweise ausgerechnet hier gelandet? Umgekehrt: Jochen als anonymer Samenspender und c ? Unsinn, die Kinder hätten einander trotzdem nie derart ähnlich gesehen c Ihre Kinder schienen identisch. Ihre Kinder? Waren ihre nicht natürlich? Quatsch. Sie wusste genau, wann sie gezeugt worden waren und wie natürlich. Oder?
Jens erzählte weiter über die Ätzerkatastrophe. Sie habe in den letzten Tagen alle Kraft seiner Dienststelle gebunden und auch zuhause sei sie ewiges Gesprächsthema gewesen ・ bis hin, dass er bis in die Nacht hinein in Berlin festgesessen habe und seine Familie wissen wollte, was an den Horrormeldungen wirklich dran wäre. Die Beratungen der Einsatzkräfte? Klar sei er auf dem Laufenden. So sei er ja auch auf den Namen Rahman Parchmann gestoßen.
„c Plötzlich hatte ich einen Anlass, nach euch zu fahnden.g
„Rahman?g vergewisserte sich Petra.
„Ja, darauf komme ich noch zurückg, sagte Jens. „Ein Stück vom Chaos in Berlin ist selbst gemacht. Bisher sind mehr Menschen tot getrampelt, erschlagen und im panischen Aufbruch überfahren worden als siliziert. Nach einer Woche haben wir jetzt endlich etwas System in die Evakuierungen bekommen. Nur die Sikroben vermehren sich pausenlos. Wenn nicht bald etwas gegen sie gefunden wird, also ich weiß nicht, wie das enden soll.g
„Siehste, die Leute sind selbst schuld. Sollen sie sich kümmern. Es zeigt sich wieder mal, dass sich nur die durchsetzen, die die Übersicht behalten. Leistung und Disziplin. Sich nicht klein kriegen lassen, wennLs scheinbar nicht weiter geht. Dann geht es eben doch weiter. Ich mal mir nicht aus, dass in ein paar Wochen das alles hier ein erstarrter Dreckfleck sein könnte. Panik ist immer sinnlos. Ich cg Petra lauschte auf die Geräusche der Mädchen im Hintergrund.
„Dreckfleck ist gut c Es ist leicht auszurechnen, wie schnell die Ätzer sich ausbreiten, wenn sie nicht gebremst werden. Bald sind sie hier. Wenn auch noch nicht in der nächsten Woche.g Jens lachte etwas gekünstelt.
„Ich weiß. Bevor ich mich hierher getraut habe, habe ich ne Simulation abgerufen.g
„Und welche Überlebenszeit gibt dein System der Erde insgesamt?g
„Amerika und Tibet gibt es noch langecg Petra lachte gekünstelt.
Eine Weile hingen alle still brütend ihren Gedanken nach. In diese Stimmung hinein stürmten die vier Mädchen. Einmal hoch. Einmal runter. „Ist das nicht unheimlich, entschuldigt bitte den Ausdruck, wie ähnlich sich die Mädchen sehen? Das kann doch kein Zufall sein c Ich würde mich nicht wundern, wenn Sonja auch mit solchen Zwillingen ankommt.g Jens sah keine der Frauen an.
„Die nahe liegendste Erklärung cg Janine sah abwechselnd zu Petra und Jens. „War was zwischen euch?g
„Nicht, dass ich wüsste.g Jens sagte das leise. Damit war Petra klar, auch ihm wäre diese überschaubare Erklärung angenehmer gewesen.
„So richtig zum Lachen finde ich das nicht gerade. Aber zumindest kann ich dir versichern, Janine, dass ich nie was mit Jens gehabt habe. Auch wenn du das nahe liegend findest.g Petra drehte sich zu Jens. „Aber vielleicht erzählst du endlich, warum du dieses Treffen gerade jetzt wolltest.g
„Wollen wir nicht noch auf Sonja warten? Mehr Kugelbesitzer habe ich sowieso nicht erreicht.g
„Erzähl lieber! Ich habe schon verstanden, dass du meinst, es hängt mit unseren Kugeln zusammen.g Petra lehnte sich locker zurück. Ein Seitenblick. Aha, Janine hatte die Arme vor der Brust gekreuzt.
JensL Blick fixierte eine Hummel, die gerade am Apfelbaum vorbei flog. „Also, Rahmans Tod gab den letzten Anstoß für die Einladung. Was davor war, war so merkwürdig, dass ich mich nicht getraut hätte, darüber zu reden. Nicht einmal mit Janine. Dabei war sie eines der Opfer. Bis vorhin hab ich noch gezögert, überhaupt darüber zu sprechen. Aber es gibt da etwas, was wir unbedingt klären müssen. Etwas, was ich bisher für einen Rausch, eine Halluzination oder so gehalten habe. Aber die Zwillinge sind wohl wirklich keine Sinnestäuschung. Ihr Anblick hat mich genauso überrascht wie euch c oder nicht ganz so ... Zumindest cg Jens machte eine Pause. In diesem Augenblick hörten alle ein sanft anschwellendes Brummen. „Das wird Sonja sein.g
Für die beiden Zwillingspärchen folgten herrliche Stunden. Gelegentlich stürmten sie hoch zum Haus, das Jana zum „Hexenhausg erklärt hatte, dann dämpften sie instinktiv ihre Lautstärke, als gelte es, einen Gegner auszukundschaften. Sie holten Saft und Kuchen und für jeden ein Eis aus dem Kühlschrank und verschwanden wieder am See. Tina hatte noch nie eine Badestelle erlebt, die so versteckt lag. Schade, dass sie noch nicht gut genug schwimmen konnte. Aber es machte auch so Spaß, von Leonies Schultern zu springen.
„c Fest steht: In den letzten zehn Jahren bin ich Petra nie begegnet. Die Kinder ähneln sich aber wie eineiige Vierlinge. Also ist das hier ein Wunder. Es wäre schon Zufall genug gewesen, wenn alles weibliche Zwillinge gewesen wären. Du hast ja auch welche, Sonja. Aber als ich die Idee für unser Treffen hatte, wusste ich das noch nicht. Da beschäftigte mich etwas anderes. Sagt mal, habt ihr irgendwann einmal etwas Ungewöhnliches mit Insekten erlebt?g
Jens sah dabei Sonja an. Die schüttelte mit dem Kopf. Sie war allein gekommen und hatte die Mädchen noch nicht gesehen. Petra verfolgte, wie Jens zum zweiten Mal seine Beobachtungen mit der Kugel und den Hornissen schilderte. Ihre Gedanken irrten ab: Als sie damals schwanger war, hatte sie Rahmans Kugel wohl noch gehabt. Das war dermaßen verrückt ・ Hätte sie das verdammte Ding bloß gleich weggeworfen c
Als sie JensL Blick traf, war es zu spät zum Wegsehen. Petra antwortete als erste: „Nein, Hornissen hab ich noch keine erlebt c und andere Insekten? c Nein, nichts, was mir aufgefallen wäre. Ich hab aber auch nicht weiter drüber nachgedacht.g Hatte das beiläufig genug geklungen? Petra wollte sich nicht weiter befragen lassen. Wie hätte sie nach der Geburt ihrer Mädchen einen Zusammenhang zwischen der Kugel und dem Verhalten von Insekten beobachten können ・ sie wusste doch nicht, wo Rahmans Geschenk geblieben war c Das musste sie den anderen aber nicht auf die Nase binden. In der Geschichte hatte es immer mal wieder Schädigungen durch Umweltgifte und Strahlungen gegeben. Nun waren ihre Zwillinge bestimmt nicht geschädigt in diesem Sinne, aber c
„Es kann ja alles ein extremer Zufall sein. Aber ich nehme an, Jens hat uns hergeholt, um dem auf den Grund zu gehen. Da seine Kugel die verdächtigste ist, schlage ich vor, ich nehme sie mit in mein Labor und untersuche sie. Außerdem werde ich prüfen, ob ich bei meiner ähnliche Wirkungen feststellen kann. Dann sehen wir weiter.g
Immer wieder kreisten Petras Gedanken um die Frage, was an ihren Kindern unnatürlich war. Kam denn keiner auf diese Idee? Die als Doppel-Pärchen besonders niedlich ausschauenden Mädchen waren vielleicht Doppelmonster. Geklonte Außerirdische. Nicht auszudenken! Und Jens? Er hatte schon mehr Zeit zum Nachdenken gehabt. Was war da rausgekommen, was er nicht aussprechen wollte? Petra wollte schnellstmöglich die Kugel in die Hände bekommen und untersuchen.Das Gespräch kehrte wieder zu der Ätzerinvasion zurück. Die Spekulationen der anderen wurden immer haarsträubender und hilfloser. Eigentlich wollte Petra dem nur ein Ende bereiten: „Klar gibt es eine Erklärung: Da sind fremdartige Monster am Werk, die die Erde ihren Vorstellungen von einer idealen Umwelt anpassen. Terraforming nennt man das. Unser aller Tod ist nur eine unbeabsichtigte Nebenwirkung.g Ihre Worte kamen flüssig, wegen des Weins, dem inzwischen alle rege zugesprochen hatten.
„Du meinst, die Ätzer sind von bösartigen Aliens geschickt? Das kann ich mir nicht vorstellen. Allein, was die für Dimensionen im Raum überwunden hätten!g hielt Janine dagegen. „Glaubst du wirklich, eine Kultur, die uns technisch so weit voraus ist, tritt dermaßen bestialisch auf?g
„Janine, weißt du, Petra war schon als Kind davon überzeugt, dass die Dinger aus dem All gekommen sind. Dabei wissen wir nicht einmalg, versuchte Jens zu scherzen, „ob das eine Kultur, ein schreckliches Missverständnis, ein Unfall oder was auch immer ist c Wer sagt uns denn, dass diese Verwüstungen in der Absicht dieser Fremden gelegen haben? Vielleicht haben wir etwas ausgelöst, was so nie vorgesehen war? Wir können nur spekulieren wie Petra damals. Im Moment haben wir immer noch keine Beweise, ob die Kugeln außerirdischen Ursprungs sein könnten. g
„Und wenn sie selbst so was wie Aliens wären?g Petra sah sich um. Hoffentlich sah niemand auch die eigenen Kinder als solche Aliens an.
„Dann hätten sie Millionen Jahre Anabioseschlaf hinter sich, oder von ihrem Auftauchen gäb es irgendwelche Überlieferungen, Spuren oder so.g Jens schüttelte den Kopf. „Da scheint mir schon glaubhafter, dass es Nachrichten sind, die wir nicht verstehen. Wenn wir schon so etwas zusammenspinnen wollen.g
Sonja hatte sich aufgerichtet. „Wenn sie als Kugeln reisen, dann spielt Zeit kaum eine Rolle für sie. Irgendwann träfen sie schon auf einen bewohnbaren Himmelskörper. Aber aus welcher Mottenkiste habt ihr bloß eure Philosophien? Als ob Intelligenzen unbedingt modern, fortschrittlich, friedlich und so zusammenleben müssten, wenn ihre Technik modern, also noch moderner ist als unsere! cg
„Nun komm uns nicht mit solchen Horrorerfindungen von eroberungswütigen Superwesen, Borgs, Kyborgs oder so. Die gibt es doch nur im Film. Und da sind sie auf dem Niveau der alten Römer stehen geblieben. Dadurch werden automatisch die Menschen zu den Guten. Die Filmemacher verstehnLs nicht besser.g Jens hatte sich halb aufgesetzt.
„Du tust ja so, als wären wir Menschen weiter! Wir sind im Moment nur die einzigen intelligenten Wesen, die wir kennen. Und was tun wir? Tanzen auf einem selbst geschaffenen Pulverfass. Überlegt doch mal: Ist es nicht ein glücklicher Zufall, dass es unsre Erde noch gibt? Ja, viel fehlt uns nicht bis zu Flügen zu fremden Sternen. Technisch fähig dafür wären wir. Die fremden Welten können vielleicht froh sein, dass wir sie noch nicht erreicht haben.g
Bei ihren Worten sah Sonja Jens ins Gesicht. Sie war halb aufgestanden und wurde mit jedem Satz lauter. Petra verdrehte die Augen. Mit ihrer linken Hand deutete sie einen Heiligenschein an.
Sonja fuhr unbeirrt fort. „Wir sind an Atomkriegen vorbei geschlittert, die selbst gemachte Klimakatastrophe haben wir zigmal vorhergesagt und nichts dagegen getan, wir haben an der Genetik der Natur herumgespielt c eigentlich hätte uns wenigstens eins davon dahinraffen müssen c Von den meisten Fast-Katastrophen wissen wir wahrscheinlich gar nicht. Wir haben es immer wieder versäumt, vernünftige Lebensverhältnisse zu schaffen.g Mit weit nach vorn gebeugtem Oberkörper bewegte Sonja die Arme wie der Dirigent eines Orchesters. „Persönlichkeiten, an die man nicht erinnert werden will, haben längst herausgefunden, woran das liegt und was man ändern muss. Aber was hat sich verändert? Nichts. Wir haben sie bekämpft ・ die Männer und ihre Ideen cg
Sonjas Zunge war schwer. Trotzdem oder gerade deshalb hätte sie wohl den weiteren grillenstillen Abend lang den tiefsten Sinn des Menschseins herbei philosophiert. Petra war Jens dankbar, als der aufstand, Sonjas Glas auffüllte und ihr die Hand besänftigend auf die Schulter legte. Sonja sah sich einen Moment um, als würde sie gerade gewahr, in welchem Kreis sie saß. Sie senkte kurz den Kopf, hob ihn aber sofort wieder. „Entschuldigt, da ist es wohl mit mir durchgegangen. Lehrer sind manchmal so. Aber lasst mal ・ im Moment passieren mir die verrücktesten Dinge. Zum Beispiel sind zwei meiner Schülerinnen extra losgezogen, um persönlich an diese Sikroben heranzukommen. Ich war nicht einmal ganz unschuldig daran. Ich wollte der einen nämlich klarmachen, dass es Blödsinn sei, über den Weltuntergang zu phantasieren c Ja, lacht nur. Und wisst ihr was? Sie haben es auch geschafft. cg
„Ja, die Story ist bei allen Einsatzkräften umgegangen. Uns reichen ansonsten die Sekten-Gurus, die sich als neue Märtyrer dem Weltuntergang entgegenstellen wollen. Wisst ihr cg Jens hatte schon vorher skurrile Anekdoten am Rande der Tröpfchenkatastrophe erzählt. Aber Sonja ließ sich nicht so leicht das Wort abschneiden. „Ich bin noch nicht fertig. Das Dollste kommt erst noch. Julia, also die eine von den beiden, hat danach behauptet, sie hätten die Tropfen gestoppt ・ mit Gitarrenspiel. Es hat ihr natürlich niemand geglaubt. Ich habe viel darüber nachgedacht. Marie, die andere, die sie angestiftet hat, hat schon vorher verrückte Sachen ausgeheckt. Aber sie hat nie geflunkert, so unglaubhaft vieles auch geklungen hat c Ich glaube ihnen. g
„ Na, dann wissen wir ja, wie wir dem Tod entgegentreten müssen.g Jens hatte sich aufgerichtet und den Finger wie ein sich meldender Schüler nach oben gestreckt. „Wir bilden einen großen Kreis aus Gitarristen rund um Berlin und singen We shall overcome . Gleich morgen gehtLs los.g
Die anderen lachten.
Petra kam sich entschieden zu nüchtern vor. In diesem Kreis war nichts Vernünftiges mehr zu erwarten. Lieber schneller trinken. Sie hatte viel aufzuholen. Die anderen redeten viel und laut, und überhaupt hatte sie keine Lust mehr, sich an der Diskussion zu beteiligen.
Am nächsten Morgen fragte sie Sonja, ob sie die Geschichte von dieser Marie wirklich für bare Münze genommen habe. „Eigentlich nichtg, antwortete die. „Gestern ist mir wohl der Alkohol nicht bekommen.g
Als Petra abfuhr, lag JensL Kugel im Kofferraum ihres E-Cars. Alle hatten ihr fest versprochen, sich gleich in der nächsten Woche bei ihr zu melden. Sie melde sich auch gleich, hatte sie geantwortet. Vielleicht gebe es dann schon Neuigkeiten. Sonja hatte Sina und Leonie zugesagt, beim nächsten Besuch ihre Zwillinge mitzubringen. Ob sie es glaubten oder nicht: Auch die sähen ihnen zum Verwechseln ähnlich.
Petra war sich fast sicher, dass sie an dem vergangenen Abend etwas erfahren hatte, was das Sikrobenproblem lösen würde. Sie ließ ihre Gedanken schweifen. Manchmal, wenn es mit ihren Forschungsreihen scheinbar überhaupt nicht vorwärts ging, setzte Petra auf etwas, was sie Eingebung nannte, so eine innere Stimme: Du bist näher dran, als du denkst. Diese Stimme meldete sich auf der Fahrt in Richtung Leipzig.
Ausgerechnet in diesen Augenblick hinein rief Jana: „Guck mal da!g Sie wies auf eine riesige Werbetafel am Straßenrand, die nach dem Abbiegen links einen Freizeitspaß für die ganze Familie versprach. Petra gab dem Drängen ihrer Töchter nach, machte den Abstecher zu dem Erlebnispark und ihre innere Stimme war verstummt.
Als sie abends aufhörten, miteinander herumzuulken, schüttelte Petra kurz den Kopf, als müsste sie auf eine Frage antworten. Nein, da war nichts. Trotzdem bereute sie den Ausflug nicht. Tatjana und Martina schwärmten von ihren Spiegelschwestern. Ihnen eine solche Freude gemacht zu haben war Erfolg genug für das Wochenende. „Na, vielleicht fahren wir mal wieder hing, versprach Petra. Wahrscheinlich nicht. Bald würde auch diese Waldidylle von den Ätzern überflutet werden. Aber warum sollte sie Jana und Tina die Freude verderben?
Die Schlacht
DGenau genommen wusste natürlich niemand, was wirklich helfen konnte. Deshalb hatte man den „Koordinationsrat operative Reaktionskräfte (KOR)g geschaffen. Der hatte wenigstens eines erreicht: Um Berlin herum waren bisher nie erreichte Mengen an Waffen pro Quadratkilometer zusammengezogen worden.
Für die täglich komplizierter werdenden Flüchtlingsströme waren andere zuständig. Teilweise blieben kleine Trecks schon in den von ihren Bewohnern verlassenen Umlandsiedlungen Berlins hängen.
Bisher vermehrten sich die Angreifer ungebremst. Stoppte man sie nicht, wäre in etwa zwei Monaten vom deutschen Flachland nur noch ein erstarrter Brei übrig, und vorausgesetzt, der Herd breitete sich weiter aus wie bisher, wäre nach einem weiteren Monat alles Tiefland Europas von dem gehärteten Silitbrei überzogen. Deshalb hatte sich der KOR für den Einsatz des Militärs entschieden. Wofür hätte er sich sonst entscheiden sollen?
In Tests zeigten sich die Tropfen durchaus verletzlich. Extrem hohe Temperaturen zusammen mit hohem Druck waren ihnen unangenehm. Es gab aber nur Testreihen mit geringen Objektmengen unter Laborbedingungen. Weder die Hitze noch der Druck waren für Berlin geeignet. Auf einen Punkt konzentrierte Laserstrahlung löste die Testtröpfchen praktisch auf; breit gestreut, drückte sie die Tropfen dagegen nur zusammen. Hatte man die Strahlungsquelle abgeschaltet, ging alles normal weiter ・ sofern man die Sikroben normal nennen wollte.
Und dann c waren die tropfenförmigen Sikroben nun Leben oder nicht? Wenn ja, dann ungeheuer aggressives und der härtende Brei so etwas wie Alienkot. Die meisten fanden diese Diskussion weltfremd. Auch für solches Leben könne es bei dem Schaden nur eine Frage geben: Wie ist es zu vernichten?
Bombenexplosionen hätten die Tropfen nach allen Seiten verteilt, sie also noch schneller verbreitet. Ein Angriff aus der Luft fand deshalb wenig Befürworter. Und da die aktiven Sikroben nur am Rand des Kreises wirkten, barg der Einsatz von Antimaterie zu viele unüberschaubare Risiken, um ihm vorschnell zuzustimmen c man wollte ungern amerikanische Praxistestgebiet werden. Wozu gab es Moslems?
Inzwischen hatte der Fleck in der Mitte des Kampfgebiets einen Durchmesser von fast vier Kilometern, also den Rand des inneren Sperrgürtels erreicht. Von oben eine graue, gleichförmige Masse. Den Ring der Verteidigung um dieses Gebiet herum eröffnete ein breiter Graben, der den Brei für ein paar Stunden am Vorrücken hindern konnte. Ein großer Teil der aktiven Sikroben und die Ränder der zähen Masse liefen dort hinein und füllten ihn langsam auf.
Am äußeren Grabenrand waren in kurzen Abständen miteinander verbundene Sprengsätze angebracht. Bald hätten die Sikroben ihre Höhe erreicht. Auf einem etwa einen Kilometer breiten Streifen um den Kreis herum war alles platt gewalzt worden.
Dahinter war Artillerie in Stellung gegangen. Man hatte alle verfügbaren Waffen herangeschafft, Laserstrahler neben veralteten Geschosswerfern. Hauptsache, der Ring war schwer zu überwinden. Der Koordinierungsrat hoffte, die Sikroben in den bereits zerstörten Innenkreis zurückzuwerfen. Dort konnte man sie notfalls wirklich der Antimaterie der Amerikaner überlassen. Dort war so oder so nichts mehr zu retten. Während allerorts weiter an kleinen Sikroben- und Silitbreiproben geforscht wurde, setzte man im Großen auf die Feuerkraft der Geschütze.
Bisher hatte kein Wissenschaftler beachtenswerte Fortschritte erzielt. Die aktiven Sikroben zersetzten alle Materialien, mit denen sie in Berührung kamen. Und dass sie dort, wo man sie mittels Magnetfeldern im leeren Raum fixierte, anabiotisch ruhten, war auch keine weit reichende Erkenntnis (außer für den Transport der Proben).
Am Morgen des Angriffs herrschte Westwind Stärke zwei. Sicherheitshalber wurden einige mobile Geschütze zur Verstärkung des Ostringes umgesetzt, obwohl niemand ernsthaft damit rechnete, dass ein so sanftes Lüftchen das Kampfgeschehen beeinflussen könnte. Die kleinste Unachtsamkeit konnte aber verheerende Folgen haben.
Um Punkt acht Uhr erfolgte die Zündung des Sprengringes. Wenige Sekunden später begann der Beschuss der entstandenen Staubberge. Dabei schossen die Einsatzkräfte so, dass die meisten Geschosse wie Schrapnelle in der Luft vor dem Ätzerkreis explodierten, um die Tropfen auf die tote Silitschicht zurückzudrücken. Noch im Umkreis von 10 Kilometern bebte die Erde, dass sich Risse in Häusermauern bildeten und Fensterscheiben klirrten. Teile der in sich zusammenfallenden Staubwand lösten sich im Laserbeschuss auf. Nach etwa fünfzehn Minuten war die meiste Munition verschossen. Der gesamte Innenkreis schien zu einer hauchfeinen Nebelbank zusammengepresst worden zu sein. Der Rand des Grabens war fast frei von Ätzerstaub. Die Laserstrahlen stachen immer neue Löcher in die Staubwand. So entstand gerade aus großer Höhe ein spektakuläres Erfolgsbild.
Mit Erleichterung betrachteten die Zuschauer in aller Welt die Lifebilder des Geschehens, die stark an ein mathematisch konstruiertes Modell eines implodierenden Katastrophenherdes erinnerten, eine Computersimulation. Aber die Reporter versicherten, genauso sehe es in Berlin aus. Der Ring der Sikroben breche in sich zusammen.
Nun fingen die Amerikaner damit an, aus den weltraumgestützten Stationen den Kreis der Sikroben mit Antimateriegranaten und Lasern zu beschießen. Welch herrliche Möglichkeit für großräumige Tests dieser Waffensysteme in Friedenszeiten!
Die einzige verunsichernde Nachricht lieferte die Wetterbeobachtung. Von Westen her näherte sich ein Tiefdruckgebiet. Die Einsatzleitung befürchtete, dass das Regenwasser den Staub binden, die einzelnen Sikroben sozusagen füttern könnte. Man hatte es beim ersten Einsatz der Feuerwehr erlebt, wie die Sikroben den Löschschaum als Futter benutzt hatten. Bisher konnte man hoffen, dass die wenigen Sikrobenpartikel, die als feiner Staub der Glocke entwichen, sich später auf dem Silitbrei oder dem gesäuberten Randstreifen absetzen und dort verhungern würden.
Laufend wurden im KOR-Rechenzentrum in Frankfurt / Main die aktuellen Daten mit dem Modell des Katastrophenherdes abgeglichen. Blieben alle bekannten Faktoren unverändert, würde die vordere Grenze der Wolkenwand bald den Westrand Berlins erreichen. Es musste eigentlich reichen. Trotzdem leitete man sicherheitshalber ein vorzeitiges künstliches Abregnen der Wolken ein.
In den deutschen Nachrichtensendungen hatten in den letzten Tagen Berichte über die Vorbereitung des massiven Gegenschlages die Meldungen über die Vernichtungswut der Ätzer abgelöst. Viele Menschen nahmen dies als vorweggenommenes Zeichen der Beruhigung. Nun liefen auf allen Sendern Liveübertragungen mit eingeblendeten Grafiken und Kommentaren. Die Menschheit hatte über eine existentielle fremde Gefahr gesiegt. Welch Großtat der menschlichen Gattung!
Vereinzelt meldeten sich Wissenschaftler zu Wort, die noch immer am Ende der Katastrophe zweifelten. Man wisse fast nichts über ihr Wesen, in bisherigen Laborversuchen seien die Sikroben nur punktuell zerstört, zerstäubt und zusammengedrückt worden ・ eben das, was sie mühsam erforscht hatten. Aber wen interessierte das angesichts der Bilder einer großräumig schrumpfenden Glocke?
In Niedersachsen, Mecklenburg und Sachsen/Anhalt frischte der Wind deutlich auf. Dort wurden Spitzen bis Stärke sieben gemessen. Das Wetterregulierungssystem Met-Cor sollte das Tiefdruckgebiet nach Dänemark umlenken. Durch künstliche Luftdrucksenkung wurde ein Strudel geschaffen, um das kleinere natürliche Tiefdruckgebiet in sich aufzusaugen.
Die Sikroben fraßen sich normalerweise geradeaus nach allen Seiten und ließen ihre Verdauungsprodukte einfach hinter sich zurück. Diesmal war die Lage anders. An der Erdoberfläche kam Gegendruck gerade aus der Richtung, in die sie sich ausbreiten wollten. Der Angriff stülpte ihnen regelrecht eine Glocke über, die rundum drückte.
Noch während die Medien die Invasoren sicher gefangen glaubten, organisierten sich diese neu. Einzelne Sikrobengruppen ballten sich zu riesigen Würmern zusammen. Die bohrten sich durch kleine Röhren im Boden unter ihren Angreifern hindurch. Selbst die auf dem verfestigten Silit gelandeten Tröpfchen gruppierten sich zu solchen extrem dünnen, aber langen Bohrwürmern. Dass der Ätzerkessel so deutlich sichtbar implodierte, war zumindest teilweise Folge dieser Flucht in die Tiefe. Warum die Wände der schmalen silizierten Gänge so fest wurden, dass sie nicht von den darüber liegenden Erdschichten eingedrückt wurden, würde wohl ewig ein Geheimnis bleiben. Der Hauptgrund war wohl ihr geringer Durchmesser. Sie überwanden auf jeden Fall eine Strecke von mehr als einem Kilometer. Das dauerte über eine Stunde. Nach dem Wiederauftauchen an der Erdoberfläche gruppierten sich die Sikrobenwürmer wieder in ihrer normaler Tropfenform, um rundum neu auf Nahrungssuche zu gehen.
Kaum hatten weltweit die meisten Menschen die Siegesmeldungen über die fremdartige Invasion je nach Temperament mit Aufatmen oder Freudentaumeln quittiert, wurden die ersten neuen Sikrobenkränze beobachtet. Plötzlich steckte der Kessel, den die Menschen geschaffen hatten, in einem wesentlich größeren der Ätzer. Nur dass jetzt auch die meisten Energiereserven der weltraumgestützten Waffen aufgebraucht waren, und niemand sagen konnte, welche Gebiete man nun hätte wegradieren müssen.
In einer Zeit von Kriegen und Katastrophen waren die Zuschauer an den Bildschirmen abgehärtet. Tod und Vernichtung erschienen ihnen normal, aber immer weit weg und kontrolliert. Leute, die das Ende der Menschheit vorhergesagt hatten, hatte es zu allen Zeiten gegeben. Spinner und Schwarzseher eben. Klar waren es diesmal mehr. Die Sekten schossen wie Pilze aus der Nährlösung. Aber wozu gab es die Wissenschaft? Man würde schon rechtzeitig eine Lösung finden. Je weiter Berlin entfernt lag, desto mehr hatten die Fernsehzuschauer die Ereignisse bisher nur mit dem Schauder der Dauer-Voyeure verfolgt. Nun wurde es plötzlich selbst in weit entfernten Orten wie Madrid oder Moskau schwer, das öffentliche Leben aufrecht zu erhalten. Es sah wirklich so aus, als wäre das Problem zu kompliziert für die Menschheit. Sollte man nicht besser abhauen oder wenigstens sich noch ein paar schöne Tage machen?
Innerhalb von zwei Tagen wurde ein vom Umfang her alles bisher Dagewesene übersteigendes Europäisches Notforschungsprogramm beschlossen. Alle Forschungseinrichtungen, unabhängig von ihrer bisherigen Ausrichtung wurden bis zur tatsächlichen Eindämmung der Gefahr Einrichtungen unterstellt, die bereits an den Sikroben forschten. Der Europäische Forschungsrat in Paris wurde ermächtigt, notfalls erforderliche Geräte zu konfiszieren. Außerdem wurde ein Forschungspreis ausgeschrieben. Eine Milliarde Euro bekämen die Entdecker eines die Sikroben stoppenden Mittels. Der Preis sollte anteilig gewährt werden, wenn mehrere Teams am Erfolg beteiligt wären. Zumindest auf dem Papier war man ungeheuer schnell vorangekommen.
cdann warenLs nur noch fünfcH
Außerdem beanspruchte ihn sein Beruf. Mochten Ahnungslose wegen seiner Tätigkeit als Außenvertreter von General Systems die Nase rümpfen. Die wussten ja nicht, wie sein Arbeitstag aussah. Er saß in seinem Hamburger Büro, bereitete Präsentationen vor, arbeitete sich mitunter mehrere Tage in spezielle Aufgabenbereiche ein, bis die Verhandlungen bei potentiellen Abnehmern begannen. Das hörte sich schwierig an, war es mitunter auch, hatte aber einen unschätzbaren Vorzug: Es gab in ganz Europa weniger als 80 Konkurrenten um den Job, die Verantwortung für die Umsetzung der Projekte trugen andere und die eigentliche Arbeit brauchte er auch nicht zu leisten. Er liebte sein E-Car und die Frauen liebten ihn.
In dieses freie Leben drängte sich die Sikrobenkatastrophe wie PoeLs Stachelwände, die plötzlich von allen Seiten gegen ihn vorrückten.
An neue Vertragsanbahnungen war unter den unsicheren äußeren Umständen nicht zu denken. Niemand verschwendete einen Gedanken an Investitionen, wenn der Investitionsort bald ein Silitfeld zu sein drohte. Da gab es nur eines: Endlich den schon mehrmals angesteuerten Urlaub vom alten Europa zu machen. Hardy kam entgegen, dass einige Berliner Fluglinien jetzt von seinem Dienstort Hamburg aus starteten. Er entschied sich für Rio. Brasilien, ein ideales Urlaubsland. Allerdings sah der Computer das anders. Er behauptete, alle Flüge der nächsten sechs Wochen seien restlos ausgebucht.
Hardy interessierte sich eigentlich nur für Frauen oder den jeweils nächsten Geschäftsabschluss. So hatte ihn die allgemeine Panik bisher wenig berührt. Nun gab es eine für ihn überraschende Schwierigkeit bei der Lösung eines scheinbar einfachen Problems. Aber auch das sah er ganz pragmatisch. Hier musste Jenner ran.
Jenner war schwer zu erklären. Er hatte braune Augen und dunkle lange Haare, und wenn er Lust hatte, sprach er deutsch mit Akzent c am liebsten italienischem. Dabei war er in Hamburg-Sasel geboren und nie länger als einen Monat aus seinem Stadtbezirk herausgekommen. Aber er hatte beste Beziehungen ・ sprich, er lebte davon, alles zu besorgen, was es eigentlich nicht gab ・ und für Hardy sowieso.
c „Rio nicht, aber Mexiko. Du musst gleich kommen, und Start ist heute Abend um 20 Uhr. Eins, ja, eins cFür einen Freund nur 2000 Euro.g
Hardy schluckte erst bei diesem Preis, war aber sicher, dass Jenner ihn nicht betrügen würde. Er drückte dem Partner das Bargeld in die Hände und nahm ein Taxi zum Flughafen.
Schon in der Vorhalle hatte er das Gefühl, in eine Demonstration geraten zu sein. Hardy hasste Krakeeler. Wer keine Ausstrahlung hatte, nicht ruhig blieb und ein sicheres Lächeln im Gesicht behielt, selbst wenn scheinbar alles schief lief, der war ein Loser ・ oder er würde es werden. Die ganze Halle aber war voll gestopft mit Losern.
Hardy hatte nur Handgepäck bei sich. Scheckkarten und Ticket steckten in der Jacke. Gleich nach der Ankunft in Amerika würde er sich in Ruhe alles Nötige vor Ort kaufen. Er brauchte nur darauf zu achten, wann sein Flug C 430 aufgerufen würde. Er musste Pass und Ticket zwecks Kontrolle kurz aus der Tasche nehmen, die Bordkarte c
Sitzplätze zum Warten gab es nicht. Ob es sich für eine Dreiviertelstunde lohnte, sich zum Restaurant durchzudrängen?
C 430 ab Gate 3. Hardy erinnerte sich an eine Alarmübung in der Schule. Vergeblich hatten die Lehrer gerufen Aufstellen in Zweierreihen und Langsam hintereinander rausgehen! Seine Mitschüler waren gekugelt, zusammengestoßen, hatten sich geschubst, Lenka war auf der Treppe gestolpert, sie waren über sie hinweg getrampelt, weil von hinten die nächsten nachdrängten c Genau wie solche aufgescheuchten Kinder führten sich die Leute auf. Hardy fühlte sich fremd unter ihnen. Er hoffte nur, dass noch andere zu Gate 3 wollten und sich die Mexikoflieger dort sammeln würden, aber er wagte nicht, die Verrückten um ihn herum anzureden. Die Anzeigetafel war dunkel; auch sonst war nichts zu sehen, woran er sich hätte orientieren können. Hardy fragte sich, ob das Sicherheitssystem die Fernchecks so schnell schaffen konnte oder ob auch das ausgefallen war. Zum Glück war das nicht sein Problem.
Plötzlich tönten mehrere Schüsse durch die Halle. Der Haufen stoppte. Niemand um Hardy herum konnte sehen, was los war, aber alle nahmen an, dass am Rollfeld Soldaten Warnschüsse in die Luft abgegeben hatten. Hardys Laune besserte sich wieder. Wenigstens bemühten sich die Sicherheitskräfte, die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Sein Flugzeug hätte in zwei Minuten abheben müssen. Das war nicht zu schaffen. Aber hatte man seinen Flug überhaupt schon angekündigt? Diese verfluchten drängelnden Massen!
Gate 3 war nicht mehr weit. Hardy wollte gerade die junge Frau, die neben ihm krampfhaft eine lederne Handtasche an die Brust presste, danach fragen ・ vielleicht hatte sie gar dasselbe Ziel wie er ・ da geriet die Masse hinter ihm wieder in Bewegung. Hardy stemmte den Rücken gegen die Horde. Konnten die sich denn nicht zusammenreißen? Hier wären Wasserwerfer nötig, um endlich Ordnung zu schaffen. Jemand brüllte, dass in der Halle Flug C 430 letztmalig aufgerufen worden war; er müsse doch mit weg!
Eingekeilt wie er war, hätte Hardy beinahe genau wie dieser Jemand aufgegeben, sein Flugzeug tatsächlich zu erreichen. Das hatte er noch auf keinem Airport erlebt. Aber dann c War das Glück? Irgendwer musste sich durchgesetzt haben. Plötzlich war unmittelbar vor Hardy der Weg frei. Der Tunnel zur Gangway. Ruhig holte Hardy sein Ticket heraus, seine Bordkarte c Er wurde weiter gewunken.
Hardy atmete tief durch. Beinahe schlendernd legte er die letzten Meter bis zum Flugzeug zurück. Er lächelte die Flugbegleiterin an. Sie brauche es ihm nicht zu erklären. Er wusste ja, wo Platz 58 war. Erlöst ließ er sich auf den Sitz fallen. Er versuchte sich abzulenken. Nur nicht hinsehen. Dass er ausgerechnet einen Fensterplatz erwischen musste! Wenn er nach draußen sah, war eine Tragfläche zu erkennen, und Hardys Phantasie setzte sie schon in Flammen.
Vier Platzreihen vor ihm brüllte ein Herr im Rentenalter die dort sitzende Frau an, sie solle seinen Platz räumen. Hardy erkannte die Nachbarin aus dem Gedränge wieder. Wer blies sich denn da schon wieder auf? Das gab es doch gar nicht. Die Frau antwortete leise. Hardy nahm an, sie behauptete, dass sie auf ihrem eigenen Platz säße. Was sonst? Jedenfalls versuchte der Mann gegen den Strom durch den Gang zur Flugbegleiterin zu gelangen. Aber am Eingang tobte gerade ein weiterer heftiger Streit.
In dem Moment klopfte jemand auf Hardys Schulter. „Sie sitzen auf meinem Platz.g
Hardy drehte sich langsam um, erblickte einen Hünen hinter sich, sah sich angehoben, saß plötzlich im Gang, erhob sich, merkte nur, dass um ihn herum ein Gewirr von Stimmen war, begriff, dass viele jeweils dieselben Plätze für sich beanspruchten. Eine allgemeine Rauferei bahnte sich an. Hardy erinnerte sich an Meldungen, dass Banden gewerbsmäßig gefälschte Flugunterlagen verkauften. Jenner würde ihm doch nicht etwa c Nein, das konnte nicht sein. Sein Ticket war sicher das echte. Aber was nutzte es ihm, wenn das später herauskam? Er wollte schließlich jetzt mit genau dieser Maschine abheben. Und er hatte ja wohl nicht umsonst spezielle Selbstverteidigungskurse belegt.
Was dann kam hätte er nicht angemessen erzählen können. Hardy ergab sich vollständig seinem durchtrainierten Unterbewusstsein. Das hatte totale Unterlegenheit gegenüber dem Hünen auf seinem Platz und reagierte entsprechend. Wenige ultraschnelle Greif-, Zuck- und Schlagbewegungen. Der Hüne flog durch die Luft, brüllte, war schon entschärft. Ein Schlag noch, dann würde er Hardy den Platz nicht mehr streitig machen.
Hardy freute sich darüber, dass Soldaten im Eingang auftauchten, dann spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Mit Blick auf die Gangway kam er wieder zu sich. Sein erster Gedanke dabei: Er würde gleich hinunterstürzen. Er hob die rechte Hand, um sich zur Wehr zu setzen. Scheiß Soldaten! Da wurde ihm schwarz vor Augen. Dass die Ordnungskräfte das Flugzeug wieder verließen und der Flugbegleiterin erklärten, es sei alles klar zum Start, erlebte er nicht mehr.
Das waren Hardys letzten Eindrücke von Europa. Drei Tage dauerte es, bis sich alles aufgeklärt hatte. Man entschuldigte sich bei ihm. Die Ausnahmesituation c Er müsse doch verstehen. Er verstand. Und zog seine Konsequenzen. Den nächstbesten Flug zum anderen Kontinent nahm er. Welcher Art Beziehungen er in Montevideo hatte, habe ich nicht erfahren. Für Jens verlor sich mit jenem Flug jede Spur des ehemaligen Schwurbruders. Es kann also sein, er lebt noch. Wahrscheinlich aber unter einem anderen Namen ...
Der zweite freie Kristall
NWenn sie solche Gedanken quälten, stritt Petra oft unsachlich mit ihren drei Assistenten ・ und übernahm gleich darauf sich entschuldigend einen weiteren Teil von deren Aufgaben. Marcus lächelte dazu. „Ich komm schon eine Stunde früher und gehe zwei Stunden später. Aber wenn Sie meinen, dann machen wir noch mehr.g
Solange Petra viel zu tun hatte, brauchte sie nicht nachzudenken: Was war mit ihren Mädchen los, ihren Kindern, ihrem Nachwuchs, ihren c Sie schreckte davor zurück, dem Unbekannten einen Namen zu geben. Wenn sie Jana und Tina ansah, gingen ihre Gedanken mitunter ihre eigenen Wege. Beim Schlaflied oder morgens beim Aufstehen. Die Zwillinge sahen so lieb aus. Wie immer. Kaum zu glauben, aber das konnten gefährliche Aliens sein. Irgendwann mutierten sie und dann c Was gab es für Untersuchungsmethoden, um eine Abweichung im genetischen Material festzustellen? Wenn sie keine Ahnung hatte, wonach sie eigentlich suchen sollte?
Andererseits ... Wenn etwas ihre Erbanlagen manipuliert haben konnte, dann die Kugel. Eine Vermutung, die sich durchaus als Arbeitshypothese eignete. Dann sollte sie sich zuerst JensL Kugel vornehmen. Die stand ihr zur Verfügung.
Beim Grübeln stutzte Petra. Machte sie sich Sorgen um ihre Zwillinge, beschlich sie die Angst, dass mit ihnen etwas nicht in Ordnung sein könnte, dann wurde ihre Laune noch schlechter, als sie sowieso schon war. Dachte sie jedoch daran, JensL Kugel zu untersuchen, stellte sich ein ausgesprochen wohliges Gefühl ein, eine wachsende Vorfreude, Appetit, wie beim Duft frischer Röstkartoffeln kurz vor dem Mittagessen. Und für Röstkartoffeln warf sie alles hin!
Zufall? Na ja, das wär wohl das Schlimmste, was ihr passieren könnte, wenn sie ihre Kinder verlöre. Aber so abrupte Stimmungsumschwünge? So waren die nicht normal. Etwas, was untersucht zu werden verlangte.
Petra begann sofort mit Selbstversuchen. Bewusst redete sie zuerst auf sich ein, es sei doch völlig nebensächlich, warum, Hauptsache, es ginge ihr gut. Sie sollte ihre laufenden Aufträge zurückstellen und JensL Kugel untersuchen. Sie horchte kurz in sich hinein. Euphorisch, ja, euphorisch war das richtige Wort. Sekunden später warf sie sich vor, dass sie das nicht machen könne und c Schon schlug ihre Stimmung um. Das ließe sich bestimmt sogar messen, aber selbst so war klar: Jetzt hatte es sie erwischt! Dasselbe, was Jens erzählt hatte; seine Geschichte von den Insekten.
Die Kugeln belauerten sie also. Ungewöhnliche Kräfte wirkten auf ihre Psyche. Eine grausige Vorstellung. Trotzdem versuchte Petra sachlich nüchtern an das Problem, ja Problem, nicht mehr, ein bestimmt lösbares, heranzugehen. Wenn das so war, überlegte sie, ohne eine Verschlechterung ihrer Stimmung zu bemerken, gäbe es verschiedene Möglichkeiten, warum. Mit mehr Zeit könnte sie schrittweise die weniger wahrscheinlichen ausschließen. Sie hatte aber keine Zeit. Dann sollte sie der nahe liegendsten ・ hier lächelte Petra in Gedanken an Janine ・ Erklärung folgen: Diese Kräfte wollten sie zu einer bestimmten Handlung veranlassen. Zu Furchtbarem vielleicht. Sie selbst als Werkzeug des Schreckens missbrauchen! Schmerzhafte Leere in Petras Kopf. Klar sagte die Überlegung den Kugelkräften nicht zu.
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Also c Angenommen, es gab diesen Zusammenhang zwischen den Erbanlagen ihrer Kinder und den unbekannten Kräften der Kugeln. Wenn sie die Kugeln erforschte, klärte sich dann nicht auch, was es mit ihren „Kloneng auf sich hatte? Mochte das Geheimnis noch so schrecklich sein?
Petra fühlte sich besser. Eindeutig: Wenn sie sich nichts einbildete, hatte die Kugel ihrer Überlegung zugestimmt. Also Vorsicht! Vielleicht tat sie gerade das Falsche. Denn wieder lief die Überlegung darauf hinaus, zu Lasten der Sikrobenreihen mit der Kugel zu experimentieren.
Sollten die Assistenten an den bisherigen Versuchsreihen weiter forschen, genauer, sollte sie ihre Assistenten von den Kugeluntersuchungen ausschließen? Nichts. Die Frage schien die Kugel nicht zu interessierten.
Erst einmal einen groben Analyseplan aufstellen. Ganz allmählich Stufe für Stufe: Mechanische Eigenschaften, chemische Analysen von Oberflächenpartikeln, Testreihen zu möglicher Eigenstrahlung, bei langen Wellenbereichen beginnend, Bioimpulse c Alles zeitlich so abgestimmt, dass sie nicht mit ihren Assistenten zusammenstieße.
Petra fühlte sich ungewöhnlich gut. Die Kugelkräfte schienen ihr Vorgehen zu billigen. Petra erschauerte. Sie wäre für längere Zeit mit der Kugel allein in den Laborräumen, ohne Chance, jemanden zu rufen. Und vielleicht konnte nur ein schmerzhaft dem Einfluss des Unbekannten abgetrotzter Hilferuf die letzte Rettung sein! Egal, das Risiko musste sie eingehen. Und wozu gab es ein komplexes automatisches Alarmsystem in allen Räumen?!
Als erstes die Kugel wiegen. Zum einen fürs Protokoll, zum zweiten war das wie Warmlaufen, und nicht zuletzt war ein Rest der kindlichen Verwunderung bei ihr erhalten geblieben. Diese Kugel, die eigentlich wie ein Stein aussah, überraschte sie immer wieder neu, wenn sie, leicht wie ein luftgefüllter Ball, in der Hand lag.
Von wegen: 7327 Gramm. Noch einmal schaute Petra auf die Anzeige der Digitalwaage. Es blieb dabei. Die Masse bestätigte den äußeren Schein. Ein ganz schöner Brocken. Nur dass der sich spielend leicht anheben ließ. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Belustigt merkte Petra, dass sie halblaut mit der Kugel sprach. Sie warf sie in die Luft, fing sie wieder auf c Also siebenhundertzweiunddreißig Komma sieben Gramm, das hätte ich noch geglaubt, obwohl auch das schon zu viel schien, so vom Gefühl her. Petra schüttelte den Kopf, trug das Ergebnis mit Fragezeichen in ihr Protokoll ein. 7327 Gramm.
Dann das Volumen. Die errechnete Dichte ließ keinen vernünftigen Schluss zu. Vor allem, da Petras Gedanken um die Gewissheit kreisten: Etwas stimmte nicht.
Petra fixierte die Kugel und begann mit dem Versuch, mittels eines Spezialmessers Partikel von der Oberfläche zu lösen. Vergeblich. Nicht das kleinste Krümelchen ... Aber für chemische Tests brauchte sie welche. Oder sollte sie die ganze Kugel in Säuren und Basen tauchen. Nachher wusste sie vielleicht, woraus die dann nicht mehr existierende Kugel bestanden hatte? Saublöde Idee. Also Laserschneider ran und vorsichtig eine Kappe abtrennen.
Nach diesem Gedanken ging es Petra so schlecht, dass sie sich erst einmal hinsetzen musste.
Das hätte dir wohl wehgetan, was?
Oh, Mann, wenn mich hier jemand so erwischte! Rede ich mit einer Kugel! Petra stand wieder auf. Sie konnte ihren Blick nicht von dem angefangenen Protokoll lösen. Wenn nun die Waage eine Macke hatte? Am liebsten hätte Petra einfach nachträglich ein Komma gesetzt.
Im Labor gab es des nostalgischen Schmucks wegen eine altertümliche Federwaage. Petra löste die Kugel aus ihrer Verankerung. Sie würde ihr Objekt noch einmal auf ganz urtümliche Art wiegen. War das nicht mal etwas Anderes? Aber c Das war doch nicht möglich! Diese Waage zeigte 1186 Gramm. Petra wiederholte die Gewichtsbestimmung auf einer der Reserve-Digitalwaagen. Es erstaunte sie kaum noch: Diesmal sollte die Kugel angeblich 1170,95 Gramm wiegen. Das stachelte Petras Neugierde an. Noch einmal das Ganze und c der nächste Wert. Ins Protokoll schrieb Petra Masse schwankt und dabei brabbelte sie vergnügt vor sich hin. Hätte sich einer ihrer Assistenten so aufgeführt wie sie jetzt, wäre ihm mindestens die Frage, was denn mit ihm los sei, nicht erspart geblieben. Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus! Aber niemand konnte Petra nach Hause schicken. Die Nachbarin würde Jana und Tina abholen und ins Bett bringen.
Du gibst mir Rätsel auf, murmelte Petra. Als ob du das absichtlich machst. Du willst mich wohl zu immer neuen Untersuchungen herausfordern.Bei diesen Worten liefen wohlige Schauer Petras Rücken herunter. Die unbekannten Kräfte wollten also, dass sie weitermachte. Petra musterte die Kugel, sah sich im Labor um, entdeckte nichts Ungewöhnliches, nichts, was sich verändert hatte. Aber gerade das Gefühl, von Tausenden unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, von Augen, die in ihre geheimsten Gedanken hineinsehen konnten, trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Die Raumtemperatur wurde automatisch auf zweiundzwanzig Grad Celsius gehalten.
Wenn nun die sichtbare Oberfläche einen von ihr grundverschiedenen Kern verbarg? Der erzeugte dann die unerklärlichen Phänomene. Tolle These, schimpfte Petra. Das war zwar nahe liegend, nur erklärte es nicht, warum die Kugel in verschiedenen Momenten so unterschiedlich schwer war.
Einmal angenommen, es wäre kein Gerätefehler? Petra murmelte verärgerte: Als ob in ihrem Inneren etwas zu fliegen versucht.Absolutes Hochgefühl.
Ich werde wahnsinnig. Vielleicht bin ich nur überarbeitet? Aber die Kinder? Reiß dich zusammen! Du solltest lieber herausbekommen, wie es in der Kugel aussieht! Es wird doch wenigstens eine Strahlung geben, die dieses Ding durchdringt!
Hochstimmung. Das war also erwünscht.
Petra las langsam die Strahlungen vor, die zu Abbildungen führen konnten. Sie begann lächelnd mit Ultraschall, wobei sie sich ein außerirdisches Baby im Inneren der Kugel vorstellte. Ihre Stimmung belohnte sie nicht. Nur bei einer einzigen Variante empfand sie angenehme Schwingungen: Röntgen. Das Gute daran: Ein Röntgengerät hatten sie im Labor. Die Methode erforderte deshalb keine zusätzlichen Bemühungen.
Petra machte schnell zwei Röntgenbilder aus verschiedenen Perspektiven. Tatsächlich: Auf ihnen war ein fest strukturierter Kern zu erkennen. Ohne ersichtlichen Grund kam Petra die Idee, die chemischen Analysen für den nächsten Abend vorzubereiten.
Petra fixierte die Kugel neu und setzte den Laserschneider an. Dabei verfolgte sie genau, wie sie sich fühlte. Sie empfing eindeutig wieder ein Signal. Nur war es diesmal positiv. Wieso das? Ging es nicht um denselben Laserschnitt, bei dem sie sich vor ungefähr einer Stunde noch mit Schmerzen hatte setzen müssen? Was sollte den Sinneswandel ihres Untersuchungsobjekts bewirkt haben? Vielleicht hatte sie sich einfach geirrt und die Effekte vorher waren Zufall, Einbildung, geschuldet ihrer Arbeitsüberlastung, und die Kugel sendete gar keine Signale an ihre Gefühle ・ aber daran glaubte sie nicht.
Petra bemerkte eine kleine Einbuchtung am linken Ende des beabsichtigten Kugelschnittes und c Das Folgende ging für ihre Augen einfach zu schnell. Sie hörte ein Geräusch, irgendwie dumpf, gedämpft, als wäre es in Wirklichkeit so laut wie eine Sprengung, deren Krach sie durch Ohrenschützer gedämpft erreichte. Sie hatte sofort den Laserschneider abgeschaltet, doch es war schon zu spät. Die Kugel war längst aus ihrer Fixierung geflogen. Richtiger das, was von ihr übrig war. Auf dem Tisch verstreut lagen ein Kristall und Schuttreste. Wahrscheinlich lag auch Einiges daneben. Das prüfte Petra nicht. Ihr entfuhr nur „Scheiße!g und dann überfiel sie eine unbezwingbare Müdigkeit.
Sie betrachtete den leuchtenden Kristall, wandte sich ab, torkelte ein wenig. Ich kann nicht mehr. Morgen ist auch ein Tag. Außerdem muss ich die Kinder abholen und nach Hause gehen. Gleich früh mache ich an der Stelle weiter, wo ich jetzt aufgehört habe. Petra hätte nicht sagen können, ob sie das tatsächlich laut gesagt oder nur gedacht hatte. Von einem Moment auf den nächsten völlig erschöpft, als wäre der Kugel ein betäubendes Gas entwichen, verließ sie das Labor.
Ich handle nicht vernünftig. Ich breche jetzt nur ab, weil mir dieser Kristall das eingegeben hat.
Am nächsten Morgen wachte Petra vor dem Weckerklingeln auf. Sie fühlte sich munter, unruhig, wollte sofort ins Labor. Eine unbestimmte Ahnung trieb sie. Wenn sie rannte, könnte sie vielleicht noch eine Katastrophe verhindern. Die Zwillinge kamen ihr ungewöhnlich quirlig vor. Als sie ihnen jedoch sagte, sie sollten diesmal früher zur Schule, da murrten sie seltsamer Weise nicht, sondern beeilten sich freiwillig. Da stimmte doch etwas nicht? Sonst waren die beiden morgens nie so. Die innere Unruhe wuchs. Um 8.05 Uhr stand Petra an der Labortür.
„Guten Morgen. 1711 Herbst!g Petra lächelte etwas gequält. Mit einem Brummen beendete das Sicherheitssystem den Datenabgleich von Netzhaut und Stimmmodulation. Das System signalisierte keine Gefahr. Die Tür sprang auf. Noch immer nichts. In dem Augenblick aber, in dem Petra ihren Oberkörper durch den Türspalt schob, umgab sie plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm.
Alarm. Nahe liegend wäre gewesen, sofort die Tür zuzuschlagen, sich selbst also in Sicherheit zu bringen, den Raum hermetisch abzuriegeln und Hilfe zu holen. Dann in aller Ruhe zu untersuchen, was eigentlich passiert war. Petra ging auch irgendwie durch den Kopf, so vorzugehen. Aber was tat sie? Sie stand da wie gelähmt und ließ ihren Blick über das Katastrophenfeld schweifen, als zeige man ihr einen Gruselfilm.
Ihr Untersuchungstisch hatte sich aufgelöst. Der Kristall lag auf dem nackten Boden, direkt unter dem Platz, auf dem er vorher gelegen hatte. Ab einem Umkreis von etwa zwanzig Zentimetern um ihn herum war alles von einer zähflüssigen Masse bedeckt, die nach normalem physikalischen Verständnis alles hätte bedecken müssen. Tat sie aber nicht. Der Kristall lag in einem unerklärlichen Loch. Konzentrisch verliefen von dort aus Wellen in alle Richtungen. Auf Schaumkämmen tanzten bläulich leuchtende Tröpfchen. Sie waren sowohl von der Tür als auch von den Seitenwänden noch knapp zwei Meter entfernt. Petra erkannte einige Einrichtungsgegenstände des Labors, die irgendwie kristallin glitzerten oder c Noch ehe Petra ein passenderer Ausdruck für das Bild eingefallen war, zerflossen sie zu einem hässlichen Brei.
Hellersdorf! Die Ätzer!
Wie oft hatte Petra solche Szenen im Fernsehen gesehen! Ihr Labor war eine Miniversion des Berliner Katastrophengebietes ・ nur irgendwie in Zeitlupe. Das konnte einfach nicht sein. Petra stand wie versteinert da. Aktive Sikroben? Hier? Die Testpräparate waren doch in Magnetfeldbehältern fixiert, und die hatten ihre Assistenten eingeschlossen.
Alles, was sie sah, konnte erst in der vergangenen Nacht neu entstanden sein. Aber wie? In der Mitte des Raumes lag noch der Kristallkern der zertrümmerten Kugel c warum hatte sie den eigentlich nicht weggeräumt und danach das Labor gesäubert? Warum waren jetzt unmittelbar um ihn herum alle Partikel wie weggesaugt? Und von dort breitete sich der zähe Brei aus ...
Die Kugel! JensL Kugel. Rahmans Kugel. War nicht Rahman unter den ersten Opfern der Tropfeninvasion ・ damals, als die Opfer in den Berichten noch Namen hatten? War das Zufall?
Wenn er nun seine Kugel in Hellersdorf dabei gehabt hatte? Dann konnte dort die Katastrophe von seiner Kugel c Vielleicht hatte er sie auch bestrahlt und geöffnet? Wenn c Dann wiederholte sich hier das alles, was sie schon kannte!
So klein sahen die Sikroben richtig harmlos aus. Blau funkelnde Regentropfen am Boden. Erst wenn sie auf etwas anderes stießen, entfalteten sie ihre Zerstörungskraft. Nur offensichtlich langsamer als in Hellersdorf.
Petra bleib ruhig! Vielleicht ist alles ganz einfach
Was hatten diese Mädchen behauptet? Die eine habe Gitarre gespielt. Sofort habe der Spuk aufgehört. War so etwas denkbar? Natürlich nicht. Phantasie von Jugendlichen. Aber das, was sie da gerade vor sich sah, hätte sie gestern auch noch für unmöglich gehalten.
Langsam wich der Schreck. Dafür war ihr nun schwindlig. Sollte sie nicht das mit dem Gitarrespiel wenigstens einmal selbst ausprobieren? Petra fühlte sich plötzlich besser. Ja, kein Zweifel, sie fühlte sich beschwingt, ja glücklich. Das konnte in ihrer Lage nicht normal sein. Eine Botschaft!? Wenn es nicht half, würde es zumindest nicht schaden. Es war verrückt, aber anderenfalls war sowieso bald alles zu Ende.
Plötzlich prallte Petra zurück wie von einer Druckwelle getroffen. Das Alarmsystem lief automatisch weiter. Gleich käme die Polizei! Das durfte nicht sein. Die würden dabei drauf gehen! Das hier war allein ihr Fall!
Petra drückte die Tür zu, sie lehnte sich noch einen Moment draußen an und sagte mit Blick auf den Analysator „Vier eins sieben, vier eins sechsg.
Erst hielt sie das Klingeln für den Nachhall der Sirene. Dann merkte sie, dass es das Videophon war. Der Wachhabende wollte offenbar eine Bestätigung der Entwarnung. Petra gab sie ihm und begann zu rennen. Sie lief zum Institutsparkplatz, sprang in ihren Wagen und raste in die Innenstadt. Es war acht Uhr zweiundzwanzig, als sie vor dem Schaufenster der noch geschlossenen Musikalienhandlung stand. Bis 9 Uhr konnte sie nicht warten. Die nächsten Menschen waren weit entfernt. Sie würden sich nicht einmischen. Die Polizei wäre auch nicht rechtzeitig da c
Petra holte den Wagenheber aus dem Kofferraum und warf ihn mit voller Wucht in das Schaufenster. Sie griff nach der nächstbesten Gitarre und raste mit ihr durch das glücklicherweise verkehrsarme Viertel zurück ins Labor. Erst als sie an der Sicherheitstür stand, drangen neue Gedanken bis zu ihrem Gehirn vor. „Verdammt! c Moment: Guten Morgen, 1711 Herbst!g
Im großen Laborraum waren die Schaumtropfen noch einen Fußbreit von der Tür entfernt. Petra versuchte sich zu konzentrieren. Irgendwie musste sie die Saiten zum Schwingen bringen. Mit der einen Hand den Hals halten, mit der anderen die Fingerspitzen über die Saiten zupfen oder c
Die Gitarre jaulte gequält. Dabei beobachtete Petra gebannt die vorderen Sikroben.
Petra, du spinnst. Du willst das sehen. Du irrst. Wach auf!
Doch! Doch! Es klappt! Sieh doch! Die Tropfen c Sie hüpfen langsamer. Ganz deutlich. Und weniger sindLs! Und die Schaumkronen c die Schaumkronen bleiben c Kein Brei mehr. Kein Hüpfen! Kein Funkeln. Das Blau c es wird matt!
Petra holte tief Luft. Schnupperte. Es roch wie immer. Petra beobachtete zweifelnd den gerade silizierten hinteren Schrank. Wartete. Gleich musste er zusammensacken c
Nein. Er behielt seine Gestalt. Er wirkte nur wie von Reif überzogen.
Plötzlich zuckte Petra zusammen. Etwas hatte ihre Schultern berührt. Marcus stand hinter ihr. Seine Gesichtszüge veränderten sich. Er hatte die peinlichen Gitarrentöne gehört, Petra erkannt, sich von ihrem Schrecken anstecken lassen und durch ihre Drehbewegung einen kurzen Blick auf Teile des verwüsteten Labors werfen können. Er war instinktiv zurückgewichen. „Was c?g
„Marcus, was siehst du hier?g
Marcus stand da mit einem Blick, der nur eines ausdrückte: Das, wonach es aussah, konnte es nicht sein. Ohne Petra hätte er sicher Feuerwehr und Polizei alarmiert. So aber schwieg er.
Petra packte ihn, zerrte ihn in den Raum hinein und redete übersprudelnd auf ihn ein: „Ich wollte es erst auch nicht glauben: Hier haben Sikroben gewütet. Ich habe mit einer Kugel experimentiert. Eine lange Geschichte. Wahrscheinlich stammen die Berliner Sikroben aus genauso einer Kugel. Das ist aber nicht so wichtig. Wichtig ist, ich habe sie vernichtet. Mit der Gitarre. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Verstehst du? Wir haben die Lösung für Berlin!g Es sprudelte aus Petra heraus. Sie wollte es hören. Es war wahr. Aber nach wenigen Sekunden überlegte sie laut: „Marcus, das ist c Die gönnen uns das nicht! So kann kein Erfolg aussehen! Wir c Wir haben geforscht, wir haben geschwitzt c wir c Wir müssen das alles anders darstellen. Wenn wir jetzt nichts falsch machen, dann gehören wir bald zu den ganz Großen. c Nur jetzt nichts falsch machen ...Komm, wir müssen schnell aufräumen. Hier hat es keinen Zwischenfall gegeben. Das ist das Beste c Wir haben gewonnen, Marcus, verstehst du: Gewonnen!g
Eine Eingebung
Erdrückende Arbeit, befreiende Arbeit c Für Jens bestand der Alltag aus beidem zugleich. Nebenbei verfolgte er alle Nachrichten zu den Sikroben. Sie hatten eines gemeinsam: Von zweckoptimistischen Meldungen abgesehen war man offenbar weltweit kein Stückchen weiter. Und mit welchem Einsatz hatten sich Tausende Freiwillige an den Aktionen zum Probensammeln beteiligt! Ein todesverachtender „Sportg, ein Kampf mit Sekundenbruchteilen. Jens verstand das Wirkprinzip nicht, aber im Zentrum der Transportbehälter befanden sich Felder, die die dort fixierten Substanzen von den Seitenflächen fern hielten. Nur mussten die Sikrobentropfen eben zuvor eingesammelt und in die Behälter gesperrt werden. Was immer sie berührten ・ oder was sie berührte ・ silizierte. Um sie zu überrumpeln waren drei Handlungen fast gleichzeitig durchzuführen: greifen, bewegen, fallenlassen. Für diese Aufgabe erwiesen sich Menschen mit Schaufeln als besser geeignet als jedes technische Gerät ・ zumindest solange keines eigens für diesen Zweck entwickelt war. Trotzdem war die Zahl der verwendbaren Schaufeln schnell geschrumpft, denn es waren nur Bruchteile einer Sekunde, die der Berührungskontakt mit den Sikroben andauern konnte.Wozu das alles? Um der Hoffnung willen, dass irgendwo ein Forschungsinstitut ein Mittel gegen die Sikroben fand. Was nicht geschah.
Jens hätte nicht sagen können, wann ihm der Gedanke gekommen war. Irgendwann war er einfach da. Vielleicht mitten in einer Frühstückspause, in der Granzner wieder einmal von den Todesengeln geschwärmt hatte, jenen Freiwilligen, die ihr Leben unmittelbar am Ring der Sikroben riskierten. Jens hatte geschwiegen. Hätte er etwa erzählen sollen, dass er bei einem Bericht über einen dieser Leute extra weggeschaltet hatte? Wegen Janine und der Mädchen? Wegen der Fragen, die er sich nicht stellen lassen wollte?
Wie gesagt, plötzlich war der Gedanke da: Du besitzt eine Kugel mit unerforschten Kräften, andere auch. Du hast Kinder, die, obwohl in einer natürlichen Liebesnacht gezeugt, aussahen wie Klone, Petra und Sonja auch c Was lauerte noch in diesen unscheinbaren Dingern? Und genau in dieser Frühstückspause musste es gewesen sein, jac da hatte er das Gefühl, die Sikroben c irgendwo, gar nicht so weit entfernt, starben gerade ab. Aber es waren nicht die, die sich von Hellersdorf aus ausbreiteten wie Flammen auf einer in der Mitte entzündeten Karte. Und er, Jens Marder, würde etwas Wichtiges erreichen, etwas viel Wichtigeres als die Todesengel, wenn er die anderen Kugeln fand. Aber was sollte es schon Wichtigeres in dieser Zeit geben, als die Sikroben zu besiegen? Kugeln finden?
Ein Hurra
„Marcus, das ist die Chance, auf die wir immer gehofft haben! Hier liegt der Anfang unserer Zukunft. Die ganze Welt wird uns zu Füßen liegen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich rieche es richtig. Wer bekommt so was sonst geboten? Das dürfen wir uns nicht kaputt machen! Wenn bekannt wird, dass alles nur ein Unfall war und cg Petra erschrak. Beinahe hätte sie das mit den Mädchen und der Gitarre zugegeben. Die Aufregung löste die Zunge wie ein Alkoholrausch. Begeisterung quoll Lava gleich aus ihrem Mund. „c dann wäre die unermessliche Chance verschenkt, bevor sie richtig in unseren Händen liegt. Was meinst du, was sich hier noch alles ergibt. Massenweise interessante Arbeit. Den Lohn dafür werden wir nicht ausschöpfen, wenn wir uns wie Zwerge aufführen. Zum Erfolg muss man Unternehmer sein. Mit einer Gitarre dem Weltuntergang entgegenzutreten mag alles Mögliche sein ・ der Weg zur Macht ist es nicht.g
Petra erinnerte sich nicht mehr daran, wer das eigentlich aufgebracht hatte, das mit dem Ring voll Gitarrenspielern und dem Gesang „We shall overcomeg, aber das Gelächter klang noch in ihren Ohren.
„Und ist ein derart primitives Mittel erst einmal bekannt, dann machen es alle. Wahrscheinlich imitiert jedes halbwegs vernünftige elektronische Keyboard die Töne im Dauereinsatz. Keiner braucht uns dann, verstehst du? Der Sieg über die Menschheitsbedrohung wäre so billig, dass selbst wir den aus laufenden Mitteln finanzieren könnten. Nix mit einer Milliarde. Nix mit Europäischer Forschungspreis. Aber genau den werden wir kriegen.g
Warum stand denn Marcus noch immer da wie ein Depp? Warum sagte er nichts? Verstand er denn gar nichts?
„Marcus, den Preis haben sie in ihrer größten Not beschlossen. Das werden sie bereuen, wenn die Not vorbei ist. Da können wir zehnmal sagen, wir haben ihn verdient! Wer bekommt schon, was er verdient hat?g
„Du hast ja Recht, Petra.g Selbst dieser verlegen dahingesagte Satz bewies nur eines: Marcus hatte seinen Schock noch nicht überwunden. Wenn das alles wahr sein sollte, was Petra da erzählte, c
„Unsere Chance, Marcus! Meinst du, ich bin fertig mit der Welt, wenn ich den Preis habe? Nein, dann gehtLs erst richtig los!g
Langsam nahm die Euphorie in Petras Stimme ab. Was erzählte sie da nur? Was ging das Marcus an? Sie hatte doch nichts mit ihm und wollte auch nicht. Oder doch?
„Also komm!g
Als erstes nahm sich Petra den nicht zu Brei zerfallenen Schrank vor. Was war mit dem geschehen? Das reifartige Glitzern erwies sich als optische Täuschung. Kein Glas oder so. Er war an sich der gleiche Schrank wie zuvor, aber einer aus einem völlig neuartigen Material.
„Also das gibtLs nicht. Ich besorge Hammer und Stechbeitel, aber ich wette, auch damit geht nichts von der Wand ab.g
Petra behielt Recht. Erst nach einer kurzen Bestrahlung gelang es ihr, wenigstens ein paar Späne von der Rückseite abzulösen, um sie zu analysieren. Äußerlich hatte sich die Eicheimitation wenig verändert, aber durch die Teilsilizierung war sie zu einem enorm strapazierfähigen Stoff geworden. Dieser Schrank hatte nun einen unvorstellbaren Wert. Das forderte die Wissenschaftlerin genauso wie die Unternehmerin. Erst einem Produkt die gewünschte Form geben und es dann teilsilizieren ・ was für Möglichkeiten! Noch immer lehnte jene Gitarre an der Wand des Raumes und schien dem hektischen Tun der verwirrten Wissenschaftler zuzusehen.
„Wir haben es in den Händen. Jetzt nur nichts falsch machen. Wenn wir uns von dem Brei beeindrucken lassen, verschenken wir alles. Die Berliner haben sie evakuiert. Am Ende freuen die sich, wenn sie nachher in neue, schönere Wohnungen ziehen können. Wir wissen, dass wir die Tropfen bändigen werden. Aber unsere Waffe muss beeindrucken. Wir brauchen was Monströses ・ nicht so was wie das da.g Petra deutete auf das Instrument.
Die Tropfen im Transportbehälter hatten die Schallwellen nicht erreicht. „Ein Glück. Ohne die wären wir aufgeschmisseng, freute sich Petra. Sie lief durch das ruinierte Labor, suchte, überlegte. „Was ist, Marcus? Die Zeit drängt. Wir müssen uns durchsetzen!g
Petra versteckte Kristall und Gitarre. Dann begann sie, den Rest aufzuräumen. Die inzwischen eingetroffenen übrigen drei Mitarbeiter widersprachen der Erklärung ihrer Chefin, das Ganze sei ein Unfall mit den Sikroben gewesen, nicht. Kein Vorwurf. Stillschweigen. Aber in den nächsten Tagen müssten alle gemeinsam untersuchen, was passiert und warum nicht mehr passiert war. „Solange wir das nicht wissen, darf nichts an die Öffentlichkeit dringen.g
Sie übernahmen neue, von Petra zusammengestellte Testreihen. Welchen Sinn die im Einzelnen hatten, blieb ihnen unverständlich, und was sie anderen zuarbeiten mussten, hatten sie nicht zu entscheiden. Nur eines war klar: Sie hatten wenig Zeit.
Petra und Marcus untersuchten, inwieweit sich die Beobachtungen mit dem Schrank auf andere Materialien übertragen ließen. Ob die Materialien, die nur der ersten Phase der Silizierung unterzogen würden, ihre Haupteigenschaften, zum Beispiel ihre Geschmeidigkeit, behielten. Zuerst einmal Kleidungsstoffe. Ein Großteil der Sikroben-Testpräparate opferten sie dafür. Marcus staunte. Die teilsilizierten Anzüge und Schuhe ließen sich nicht nur anziehen, sie wiesen vor allem aktive Sikroben-Tropfen ab.
„Wir sollten möglichst viele Aufgaben miteinander verbindeng, meinte Petra. „Ich hatte gehofft, dass das klappt. Jetzt haben wir Schutzkleidung und Behälter, in denen wir die Sikroben preisgünstiger und vor allem sicher einsammeln können. In ein paar Wochen oder Monaten haben unsere Stoffe den Weltmarkt erobert.g
Marcus staunte immer wieder, wie Petra zu ihren sich überschlagenden Inspirationen kam. Sie hatte ihn natürlich nicht eingeweiht, welches Auf und Ab der Gefühle jeder mit dem Kristall zusammenhängende Gedanke hervorrief. Er kannte die Euphorie nicht, wenn dieser Kristall eine Idee bestätigen wollte, und den Kopfschmerz als Strafe für abwegige Gedanken. Petra stellte dem Kristall laufend Fragen und bekam prompt Antwort. Jedes Mal mit veränderter Stimmung.
Die Schutzkleidung war eine der Fragen. Das Prinzip war innerhalb eines Vormittags geklärt. Schwieriger war der Prototyp des Tongenerators, der Gitarrenklänge von sich geben sollte, ohne an eine Gitarre, ein Keyboard, einen Synthesizer oder überhaupt ein Musikinstrument zu erinnern.
Petra wies ihre Mitarbeiter an, alle bisherigen Versuchsreihen abzubrechen. Von nun an fütterten sie die Sikrobenkulturen mit allem, was notfalls entbehrlich war und beobachteten sie bei der Vermehrung. Eine Teilkultur deponierten sie offen in einem der ursprünglichen Transportbehälter. Petra und Marcus bastelten in einem separaten Raum. Schließlich trugen sie von dort einen Kasten ins Hauptlabor. Dieser Kasten erinnerte an einen kubistischen Ameisenbären. Ein umgekippter dicker Turm mit langer schlanker Schnauze. Diese Schnauze richtete Petra auf die funkelnden Sikroben. Sie hielt etwas mehr als einen Meter Abstand. Dann drückte Petra auf einen Knopf. Ein feines Sirren ... Die Assistenten wollten ihren Augen nicht trauen. Die aktiven Sikroben schienen zu erstarren. Als Petra in dem Behälter das Kraftfeld deaktiviert hatte und ihn ankippte wie einen Wasserkrug, kullerten die eben noch nicht zu bändigen Mikromonster als durchsichtig funkelnde Perlen heraus. Einen Moment lang verharrten die Mitarbeiter noch ungläubig. Dann brach das Team in Jubel aus. Sie hatten es gefunden! Das Mittel gegen die Sikroben!
„Wir hatten den Effekt gleich nach dem Unfall bemerkt, waren uns aber noch nicht sicher. Der Vorgang lässt sich willkürlich steuern. Jetzt können wir zur Serienfertigung größerer Geräte übergehen.g
Kein Hurra
Amtsmissbrauch? Egal. Eine innere Stimme sagte Jens, es reichte schon, sich selbst gegenüber eine Begründung für das zu haben, was er da tat, und was die anderen nicht wussten, würde sie nicht peinigen wie ihn. Dass er seinen Zugangscode für Meldedaten benutzte, dass er vor allem wie ein kleiner Junge, der sich des Unerlaubten seines Tuns wohl bewusst war, die Momente abwartete, in denen er allein im Büro war und damit rechnen konnte, es auch zu bleiben. Wenigstens für Minuten.
Warum auch immer, er würde die fehlenden Kugeln finden und ihr Geheimnis lösen, bevor diese Welt untergegangen war. Die innere Stimme riet ihm, sich besonders um die schwere Kugel zu kümmern. Wenn alle zusammen gehörten, dann hatte die bestimmt eine besondere Aufgabe dabei. Welche? Er würde es herausbekommen.
Die erste Enttäuschung kam schnell: Jens fand Lisas Adressen, freute sich schon, dass kein angenommener Familienname ihre Spur verwischt hatte, aber c über den letzten beiden Adressen härtete der Silitbrei. Ob sie über ihre Eltern zu erreichen war? Unter deren Telefonnummer meldete sich niemand.
Hardy war leicht zu verfolgen. Schule, Ausbildung, freier Vertreter in Hamburg. Unter seiner Nummer meldete sich eine Frauenstimme. „Jo, Hardy Manten hat hier gewoohnt. Mögt er abä nich meehr. Sind Sie ein engär Verwandtä c Das tut mir nämlich Leid, tut mir das, abä där hatte einn Unfall, also dehn könn sieh noch aufn Friedhof besuchn c Nehh, dis Plünnzeuch hebbn wä zum Schreddern gegeebn. c Na, wenn ihn dat wat nützt, such ich ihnn den Nahm raus.g
Doch, das half Jens vielleicht. Er bedankte sich freundlich, aber eigentlich glaubte er nicht, hier etwas erreichen zu können. Es sah fast so aus, als bauten lauter Zufälle einen Wall um die fehlenden Kugeln.
Tage vergingen. Jens vermied es, Janine von seinen Bemühungen zu erzählen. Nicht, dass sie es nicht gut gefunden hätte, dass er nach den anderen Kugeln suchte. Da war er sicher, in ihrem Sinn zu handeln. Aber dieses unerklärliche Stocken c Wenigstens gab es so viel Erzählstoff in der wenigen Zeit, die sie zusammen waren ・ nicht nur, aber vor allem Ereignisse, die irgendwie mit den Sikroben zusammenhingen ・ dass seine Zurückhaltung gar nicht auffiel.
Ein Banktermin
„Muss das sein?g Marcus spielte am Verschluss seines Behälters.„Marcus, ich werde mich mit keinem Termin abspeisen lassen, bis wann sich diese Beraterin mit ihren Vorgesetzten abgestimmt hat. Wir haben keine Zeit zu verlieren, und wir wissen nicht, wie viele Bankchefs längst nach Amerika abgehauen sind. Das ist eine Ausnahmesituation. Außerdem rettet jede Stunde, die wir früher fertig werden, Menschenleben.g
„Ja, schoncg Die leicht erhobene Tonlage war alles, was Marcus als Einwand wagte. Das Aber kam nicht mehr über die Lippen.
Petra hatte sofort nach dem Laborunfall den Termin mit ihrer Hausbank vereinbart.
Sie kamen zu zweit. Hinter Petra trug Marcus die Sikrobenkulturen und den Kasten mit dem Prototyp ihres Antisikrobators. Auch Mitarbeiter einer Bank kannten wahrscheinlich die speziellen Behälter für den Sikrobentransport, so oft waren die in den vergangenen Tagen im Fernsehen zu sehen gewesen.
Ruhig durchschritt Petra den Schalterbereich. Mehrere Augenpaare musterten sie. „Ist Frau Kolinghard frei? Wir sind für 14 Uhr angemeldet.g Eine Angestellte führte sie durch den öffentlichen Bereich, öffnete die Tür zum Beratungsraum und zog sich wieder zurück. Marcus blieb hinter Petra stehen, die sich nach der Begrüßung auf den angebotenen Sessel gesetzt hatte.
„Frau Kolinghard, damit Sie mein Anliegen verstehen, erlauben Sie mir bitte eine kleine Demonstration.g
Petra streifte ein paar Fingerhandschuhe über, die wie gestrickt aussahen, aber von einem silbrig glänzenden Film überzogen schienen. Dann öffnete sie die Sikrobenbox. Sie ließ der Beraterin Zeit, sich davon zu überzeugen, dass wirklich aktive Sikroben darin waren. Wie aktiv, veranschaulichte sie mit einem Stift, den sie hineinfallen ließ und der in einer schäumenden Masse verschwand. „So, und nun überzeugen Sie sich von unserem Forschungserfolg. Wir nennen das Gerät Antisikrobator, ASIK.g Auf ihren Wink hin richtete Marcus das Gerät auf die Testsubstanz.
„Sehen Sie!g Petra griff, als die Beraterin zögerte, nach einem auf dem Schreibtisch liegenden Stift und hielt ihn tief in den Behälter. Nichts. Petra legte den Stift zurück an seinen vorigen Platz. Dann griff sie noch einmal in den Behälter. Sie zog die Hand wieder heraus, öffnete sie und auf ihrem Handteller lagen einige glitzernde tropfenförmige Perlen. „Sie sehen richtig. Das waren einmal die Sikroben. Sollte das nicht den Europäischen Forschungspreis für die Vernichtung der Ätzer um Berlin wert sein? Im Moment habe ich aber nur ein kleines Labor und weder genug Zeit noch Geld, um aus eigener Kraft die notwendige Zahl an ASIKs zu bauen. Vor allem welche mit einer für Berlin ausreichenden Leistung. Ich brauche Ihre Hilfe.g Sie deutete auf den unscheinbaren Kasten. „Wir möchten Ihre Bank bitten, uns mit einem Sofortkredit für die unbürokratische und schnelle Finanzierung alles Erforderlichen auszuhelfen. Eine Million läge doch sicher in Ihrem Verfügungsrahmen.g
Petra machte eine Pause, streifte die Handschuhe ab und legte sie locker auf den Tisch. „Schutzkleidung haben wir. Der Prozess der Silizierung lässt sich steuern. Die Folgen sind noch nicht abzuschätzen, aber auch hier liegen Chancen für ihre Bank. Aber eben nur, wenn wir die große Invasion bald stoppen. Sonst bleiben noch zwei Wochen, dann ist Leipzig nichts als Brei. Sie wissen, dass die meisten Ihrer Kunden längst geflüchtet sind. Wir können sie wieder zurückholen. Sie und ich. Und Sie sollten bei Ihrer Antwort bedenken, dass der da oben alles aufzeichnet.g Petra deutete auf das Auge in dem surrealistischen Gemälde an der linken Wandfront, hinter dem sie eine Überwachungskamera vermutete.
Während der ganzen Zeit beobachtete Frau Kolinghard Petra mit gleich bleibend freundlichem Lächeln. Sie beugte sich vor, als sie dazu aufgefordert wurde; sie lehnte sich danach wieder zurück, um die Besucher im Auge zu behalten. Ihr Jackett saß korrekt. Obwohl Petra davon überzeugt war, dass die Bankangestellte voll Angst, zumindest innerer Unruhe war, konnte sie nichts davon aus ihren Gesten ablesen.
Schließlich verließ Frau Kolinghard kurz den Raum. Marcus flüsterte: „Also mir ist noch ziemlich mulmig. Was meinst du? Spricht sie mit ihrer Zentrale, ob sie uns den Kredit geben soll, oder hat inzwischen die Polizei die Bank abgesperrt?g
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„Mach keine Scherze, Marcus! Selbst wenn, glaube ich nicht, dass in unserem Fall Polizisten anrücken würden. Wenn jemand unseren Aufzug vorhin als Gefahr angesehen hätte,... Die paar Einsatzkräfte, die noch in Leipzig geblieben sind, brauchen sie gegen Plünderungen. Da sind Menschenleben in Gefahr.g Petra wollte noch mehr sagen, aber da kam die Beraterin zurück. „Eine Million Verfügungsrahmen sagten Sie?g Als Petra nickte, sagte Frau Kolinghard: „Ist genehmigt.g
Es folgten Höflichkeitsfloskeln.
Vor der Tür streckte sich Petra. „So, Marcus, das hätten wir. Jetzt besorgen wir die Teile für unsere großen ASIKs.g
Petra grübelte. Die Aktion mit der Gitarre könnte man ihr ankreiden. Die Tat einer geistig Wirren sozusagen. Unvorstellbar der noch so kleine Verdacht, dass hinter ihrer bahnbrechenden Katastrophenbekämpfungsmethode nichts Anderes steckte als das Ergebnis des Ausflugs zweier überdrehter Halbwüchsiger. Ihren morgendlichen Auftritt in der Musikalienhandlung durfte es einfach nicht gegeben haben. Eine Milliarde aus Paris für jemanden, der Wagenheber in Schaufenster warf? Das ging einfach nicht. Sie fand einen Mitarbeiter im Einbruchsdezernat, der ihr schon am übernächsten Abend die Akte schickte. Bei dem allgemeinen Chaos erregte es kein Aufsehen, und der Mann freute sich über seine Belohnung genau wie der Besitzer der Musikalienhandlung über die günstig berechnete Entschädigung ・ noch dazu, weil Letzterer nach Übersee geflohen war und dort das Geld besonders gut gebrauchen konnte.
Petra telefonierte auch mit Jens. Sie hätte nachher nicht mehr sagen können, wie sie darauf gekommen waren, aber auf jeden Fall erzählte er ihr, er habe von einem Kristall gehört, den die ersten Einsatzkräfte damals auf der Straße vor Rahmans Block sichergestellt hätten. Vielleicht sei das so einer wie bei ihr? Allerdings habe an dem noch ein halber Silitarm gehangen. c Ja, vielleicht sogar der von Rahman. c Nein, er sei zwar von verschiedenen Stellen gründlich untersucht worden, aber herausgekommen sei nichts, zumindest wisse er von keinem Ergebnis. Ansonsten wäre dieser Kristall, wenn auch jetzt ohne Silitarm, nicht ausgerechnet bei der Polizei. c Doch, in der Asservatenkammer. c Wenn sie meine, damit etwas über die Bekämpfung der Sikroben herauszubekommen, müsse sie einfach einen Antrag stellen. Aber dafür müsse sie schon glaubhaft machen, dass ihre Untersuchungsmethoden mehr Erfolg versprächen als alle bekannten. c Nein, wenn sie seine ehrliche Meinung hören wolle: Die Sikroben hatten alle Aufmerksamkeit gebunden. Alles andere sei dabei ziemlich kurz gekommen c
Unverhoffte Pause
BWenn wieder eine der vielen zusätzlichen Schichten vorbei war, wusste Jens nicht mehr genau, was er im Einzelnen gemacht hatte. Er war zwar nicht versetzt worden, aber sein eigentliches Einsatzgebiet hatte die Sikrobeninvasion beseitigt. In den Berliner Stadtbezirken gab es keine Kriminalität mehr c es gab ja diese Stadtbezirke nicht mehr.
Aber es waren so viele Einsätze zu erledigen, für die man sich an seine Abteilung wandte cIhr habt doch jetzt nichts zu tun c dass er in den zurückliegenden zwei Wochen weit mehr als 120 Stunden im Einsatz gewesen war.
Es war ein Donnerstag und Granzner hatte ihm erklärt, sie sollten sofort zum Chef rein. Jens hatte durch Granzi hindurch die Wand betrachtet und gemurmelt „Vielleicht ist alles ganz einfach?g
„Okayg, hatte Granzner gesagt, „geh ich eben allein.g Und wiedergekommen war er mit der Aussage, Jens möge sofort Wochenende machen, am Montag sei er dann hoffentlich wieder ansprechbar. „Und mach dir keine Gedanken: Du hast wirklich nichts versäumt.g
Jens war nach Hause gefahren wie ein Automat, den man auf Heimfahrt programmiert hatte. „Sie haben mich nach Hause geschickt. Mir ging Ls nicht so richtig gut.g
„Haben sie das tatsächlich gemerkt? Das müsste eigentlich einem Blinden mit ausgestreckten Fingerspitzen auffallen. ... Übrigens ... deine Eltern haben vorhin angerufen. Ob wir sie mal besuchen können. Sie machen sich Sorgenc Ich hab gesagt, mal sehnc Na, nimm lieber ne Tablette und schlaf dich aus cg
Janine fiel der seltsame Blick auf, den er ihr plötzlich zuwarf. Als wäre er für einen ganz kurzen Moment hellwach. Zwar sackte er wieder etwas zusammen, aber dann sagte er: „Ach, weißt du, das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee. Wir fahren morgen Vormittag.g
Todesmut im Blitzlichtgewitter
VOperative Einsatzkräfte durchkämmten die Umgebung nach zu Evakuierenden und bemühten sich um Ordnung an den Bahnhöfen. Andere standen für Hubschraubereinsätze bereit, falls wieder Staus den Straßenverkehr lahm legen sollten. Die Zahl der bekannt gewordenen Todesopfer blieb gering, wenn auch niemand genau sagen konnte, wie viele Menschen im Silitbrei verschwunden waren. Die zentrale Vermissten-Datei ließ nur ein annäherndes Bild der wahren Verhältnisse zu. Vor Ort ließ sich eigentlich nichts gegen den Sikrobenvormarsch tun. Ohne wesentliche neue Erkenntnisse zum Charakter dieser Tropfen war eine weitere Schlacht nicht zu verantworten.
Petra besorgte sich nähere Informationen über die eingesetzten Offiziere. Oberst Pellier schien ihr für ihren Plan am besten geeignet. Er hatte inzwischen mehrere amerikanische Armageddon-Safaris in die Berliner Umgebung begleitet. In der High Society des anderen Kontinents scheute man keine Ausgaben, um diesen Monsterdrops nahe gewesen zu sein. Foto und Film darüber c eine einmalige Erinnerung.
Ihr Einsatz würde so oder so eine beeindruckende Show werden. Entweder wären die Gäste Zeugen eines historischen Augenblicks oder live beim neuerlichen Flop. Nach diesem Versprechen sagte der Oberst zu, ihren Auftritt wirksam zu vermarkten. Beziehungen habe er genug. Über Mangel an zahlungskräftigem Publikum und Presse werde sie sich nicht zu beklagen haben. Klar, die Sensation wäre das Beste, aber ein kleiner Erfolg reichte auch. Etwas Dramatisches eben.
„Wir verwandeln also den Rettungsversuch für Europa in eine Showveranstaltung?g fragte Marcus vorwurfsvoll. Er fächerte die Finger seiner linken Hand zum Kamm, um ・ wie immer erfolglos ・ seine wilde Locke nach hinten zu streichen. Sein Gesichtsausdruck erinnerte dabei an das chaotische Bild des Labors an dem Gitarrenmorgen. Inzwischen hatten sich beide Hände in der Knopfleiste seines Kittels verkrallt.
„Vielleicht kommt es jetzt auf jede Stunde an.g Petra war ungewöhnlich erregt, wie in den letzten Tagen schon mehrfach. „Andere verfügen über Mittel, mit denen wir nicht mithalten können. Alle arbeiten am selben Ziel. Woher wollen wir wissen, ob nicht jemand kurz vorm Durchbruch steht, vielleicht nach einem ganz anderen Prinzip? Das gibt es bestimmt. Bisher hatten wir Wahnsinnsglück. Von wegen blindes Huhn, das auch mal ein Korn findet. Wollen wir uns das in letzter Minute vorm Schnabel wegschnappen lassen?g
Beide mühten sich, den Antisikrobator für die Öffentlichkeit so zu gestalten, dass sein Kern nicht zu erkennen war. Eine Art verkleideter Synthesizer mit Lautsprecher. Ein patentfähiger. Auf die Idee des Erfolg versprechenden Wellenspektrums musste man erst einmal kommen.
Nur drei Stunden, bevor das Spektakel beginnen sollte, war der neue große Kasten fertig. Zwischen Biesenthal und Rüdnitz hinter Bernau, das sich „cbei Berling nannte, sollte die Entscheidung fallen.
„Antisikrobator c eine Übertreibung, zugegeben. Aber die Hauptsache ist doch, das Ding funktioniertg, grinste Petra.
Sie hatte herausgefunden, dass nicht die normalen Gitarrentöne die Lebensfunktionen der Sikroben blockierten, sondern nur die Wellen mit einer Frequenz unter 30 Hertz. Ohne den Kristall wäre sie nicht so schnell dahinter gekommen. Der hatte sie von falschen Wegen abgehalten. Was aber, wenn er eigene Ziele verfolgte? Diese Psychomanipulation sie zu etwas verleitete, was überhaupt nicht in ihrem oder im Interesse irgendeines Menschen lag? Nicht der Kristall ihr, sondern sie dem Kristall half? Petra fühlte sich innerlich zerrissen. Vor allem half ihr der Kristall bei dieser Frage überhaupt nicht. Er schien sie nicht zu verstehen. Petra hatte sich Mühe gegeben, ihn herauszufordern: Hätte sich der Kristall gegen die Überlegung gesträubt, dass sie ihn als Manipulator erkannt hätte, dann hätte sie sich bestätigt gefühlt. Aber nichts. Keine positive, keine negative Bestätigung. Letztlich blieb ein Gedanke übrig: Die Sikroben stellten im Moment eine so wahnsinnige Bedrohung für die Menschheit dar, dass eigentlich alles, was davor bewahrte, etwas Positives sein musste ・ selbst, wenn noch eigene Interessen dahinter stünden. Um die konnte sie sich immer noch nachher kümmern. Jetzt mussten erst einmal die Sikroben besiegt werden.
Der Antisikrobator hatte eine rechteckige Grundfläche von 80 x 18 Zentimetern Seitenlänge. Dazu kam die Schnauze in Form eine Pyramidenstumpfes von 25 Zentimetern Höhe. Er verfügte über eine Steuereinheit mit Monitor. Mit Strom versorgt summte er leise. Die Fernsteuerung entlockte ihm die Infraschallwellen. Der Jeep, auf den das ganze montiert war, konnte wenigstens ein Stück am Sikrobenring entlang fahren.
Die meisten Zuschauer ・ soweit sie nicht zu den offiziellen Beobachtern gehörten ・ hatten sich an Wetten beteiligt. NBC war in einer Direktschaltung mit Biesenthal verbunden. Zu Beginn fasste der Sender die Ereignisse der vergangenen drei Wochen zusammen. Eine mehrstündige Dokumentation. Die ersten Bilder der Zerstörung der Hellersdorfer Blöcke, die wachsende Ausbreitungsgeschwindigkeit der Sikroben, Simulationen zur möglichen weiteren Ausbreitung, Theorien über Ursachen der Katastrophe. Die Bestrafung der Menschheit durch einen zürnenden Gott. Eine neue Sintflut. Warum sonst gab es noch keine Ansätze der Erklärung oder gar der Eindämmung? Immer wieder wurden Bilder der Flüchtlingstrecks und hilflose Stellungnahmen renommierter europäischer Forscher eingeblendet. Wiederholt wurde angemerkt, es könne kein Zufall sein, dass der außerirdische Zorn gerade die Alte Welt traf. Trotz allem setzten 35 Prozent der Wettenden auf den Erfolg des Unternehmens.
Der erste Einsatz des Antisikrobators dauerte keine drei Minuten. Alle Sikroben im Umkreis von etwa vierhundert Metern erstarrten. Die in unmittelbarer Nähe zum ASIK sofort, mit wachsender Entfernung Sekundenbruchteile später. Übrig blieb eine bizarre Landschaft. Dort, wo einmal Berlin gewesen war, schwieg nun kilometerweit eine öde, braune Fläche. Ein riesiger See, an dessen Rändern der Silitbrei langsam erstarrte. Im Grenzstreifen glitzerten Reifbäume mit Silberlaub, Eisblumen, funkelnde Gräser und wie schockgefroren wirkende Buchen, auf denen Tropfen in verschiedensten Formen perlten. Was für eine unwirkliche Stille. Gelegentlich hörte man das Rascheln von den Bäumen fallender Sikroben. Als löste sich klingender Reif von den Pflanzen. Auf der Seite, auf der sich die Live-Zuschauer versammelt hatten, standen die gleichen Pflanzen wie im Grenzstreifen, nur dass sie hier natürlich grün und bunt waren.
Wer immer dabei war, wartete noch einen sich endlos dehnenden, ungläubigen Augenblick. Das war doch noch nicht alles? Oder? Langsam aber löste sich die Spannung der Gäste. Einige hatten die angebotenen Schutzhandschuhe gekauft. (Kann da auch wirklich nichts passieren? ・ Nein, garantiert nicht.) Eine junge Frau mit in die Kamera von Kanal 7 gehobenem Dekolletee trat ein paar Schritte vor, streckte den behandschuhten linken Zeigefinger aus und blickte mit einem Gesichtsausdruck, den sie für todesmutig hielt, zu dem Schwarm der Aufnahmegeräte. Sie berührte mit dem Finger eines der silizierten Blätter. Atemlose Stille und c Nichts. Sie lebte noch immer. Von dem steifen Blatt war eine Sikroben-Perle heruntergefallen. Sekundenbruchteile später brauste Beifall auf. Es war wahr! Langsam verwandelte sich das ungläubige Staunen in tosende Begeisterung. Der Mut der jungen Millionärserbin würde in die Annalen der Weltgeschichte eingehen. Ihr Dekolletee natürlich auch.
Petra stand lächelnd neben der Szene und erwartete ruhig den Reporter eines Fachblattes.
In Europa wurden die Bilder anfangs skeptisch aufgenommen. Das erinnerte einfach zu sehr an die Bilder der Schlacht, bei der der scheinbar offensichtliche Erfolg dann in eine so niederschmetternde Enttäuschung übergegangen war. Ja, wenn man diesen Bildern glauben könnte c Aber als die Schlacht mit Lasern und Kanonen zu Ende war, wie überzeugend hatten auch da die Bilder gewirkt. Eine in sich zusammenfallende Ätzerglocke und zwar im Ganzen. Modernste Verteidigungstechnik. Warten wir den nächsten Morgen ab, wenn dann immer noch c So in etwa versuchten die Kommentatoren schnell aufkommende Hoffnungen zu dämpfen.
Inzwischen fuhren bereits drei Generatoren an der Außenlinie des Sikrobenkreises entlang. Lange waren die neuesten Nachrichten nicht mehr in so kurzen Abständen von so vielen Menschen gespannt verfolgt, nie die Kommentare so oft mit den Worten „Es sieht so aus, als ob cg eingeleitet worden. c Es sei möglich, aber man müsse erst abwarten c
In den frühen Morgenstunden zeigten Luftaufnahmen schon eine deutliche Bissstelle im Sikrobenring. Ein wachsender Kreisabschnitt des sich ansonsten immer noch rundum ausdehnenden Ätzerbreis bewegte sich nicht mehr weiter. Das Ende der Sikrobeninvasion lag in greifbarer Nähe.
Nordwärts
A„Na, so kennt man dich gar nicht. Du musst wohl öfter an den Rand des Nervenzusammenbruchs kommen, dass du mehr an uns denkst cg Janine lachte.
Ihre Worte hatten eine sonderbare Wirkung auf die Zwillinge. Hatten sie nach JensL Worten begeistert „Jaaaa!g gerufen, wurden sie nun plötzlich still. Sie sahen fast vorsichtig zu Jens auf dem Beifahrersitz, als ob sie mit dem nächsten lauten Ton einen Schaden bei ihm anrichten könnten. Das hielten sie bis zur Näswerder Dorfstraße durch.
Danach lief dann alles fast wie immer. Natürlich regte sich Karl, JensL Vater wieder über das Fernsehen auf. „c Als ob das was mit Gott zu tun hat, wenn da so eine Flut losbricht. Solln sie doch besser nachdenken, was sie alles fürn Mist produzieren. Irgendwann sagtLs dann eben mal Klick cg
Sie saßen zusammen beim Kaffee, Jens etwas stiller als sonst. Janine und seine Mutter tauschten unentwegt Blicke aus, mal um sich auf JensL Zustand aufmerksam zu machen, mal, um sich gegenseitig zu bestätigen, dass Karl wieder einmal absolut nichts merkte.
Sina und Leonie hockten in der Ecke. Sie waren fertig mit ihren Kuchenstücken, trauten sich aber nicht, ihr Spiel auszupacken. Da überraschte sie Jens mit der Frage, ob sie Lust hätten, einen Spaziergang mit ihm zu machen. Er möchte ihnen die Ecken zeigen, wo er in ihrem Alter gespielt habe.
Janine gelang es zu verhindern, dass daraus ein Familienbummel wurde. („Lasst ihn: Er hat in den letzten Wochen kaum Zeit für sie.g) Jens hatte ihr in Sternekop erklärt, was er sich erhoffte. Selbst, wenn das nichts brächte ・ und davon ging Janine aus ・ konnte Jens wenigstens einmal kurz richtig abschalten.
Es wurde ein langer Spaziergang. Jens erzählte von Rahmans Hütte, in die sie alle in einer dunklen Abendstunde gekrochen waren (dazu jaulte er wie ein Rudel Wölfe), er führte Sina und Leo zu dem kleinen Sportplatz, der ein großes Stadion hätte werden sollen; er erzählte ihnen lauter Geschichten, die sie schon genauso kannten wie die Plätze dazu. Aber dann hielten sie an einem der gepflegten Häuschen an. Einer der alten Kumpels? Plötzlich erfasste die Mädchen eine merkwürdige Spannung: Würden sie hier noch weitere Spiegelschwestern kennen lernen?
Der mürrische alte Herr, der nach vorn gebeugt in der Tür auftauchte, erinnerte irgendwie an eine männliche Hexe ohne Katze auf dem Buckel. Er musterte Jens abweisend, und nur die beiden neugierig, aber freundlich zurückhaltend daneben stehenden beiden Zwillingsmädchen hielten ihn wohl davon ab, die Tür gleich wieder zuzuschlagen. „Was weiß ich, wo sich der Hagen wieder rumtreibt. Meldet sich ja nicht ab bei mir.g
„Es wäre schön gewesen, wenn cg
„Junger Mann, was wissen Sie schon, was schön wäre? Meinen Sie, mir macht es Vergnügen, wenn der Bengel alle Jubeljahre mal reinschneit, irgend so ein Flittchen am Arm oder den Kerl, mit dem er angeblich jetzt zusammen lebt? Wenn Sie was von ihm wollen, müssen Sie ihn schon selber finden.g
Die drei Marders standen auf dem Bürgersteig, als wären sie am ganzen Elend der Familie schuld. Plötzlich hellte sich das Gesicht des alten Mannes auf.
„Da fällt mir was ein. Junger Mann, warten Sie einen Moment!g
Er schloss die Tür. Jens sah die Mädchen fragend an, wollte schon weitergehen. Sina feixte: „Wenn du in Hagens Klasse gegangen ist, dann ist der doch so alt wie du? c Junger Mann cg
Jens kam nicht zum Antworten. Die Tür ging wieder auf und der Alte hielt einen Briefumschlag in der Hand.
„Dies war die letzte Anschrift. Da hat er Post drüber bekommen. Versuchen Sie Ihr Glück!g
Die drei dankten, sahen sich, nachdem die Tür nun endgültig ins Schloss gefallen war, kopfschüttelnd an und gingen weiter.
„Wisst ihr was, g sagte Jens, in der Hoffnung, durch diese Art der Anrede das langsam erlahmende Interesse seiner beiden Töchter wieder zu wecken, „wir schauen noch mal bei den Eltern von der Lisa vorbei. Das war das Mädchen, was heimlich in unsern Hundehütten-Rahman verliebt war.g
Eine Liebesgeschichte unter etwa Gleichalten, ja, das war was, und begeistert stimmten die Zwillinge zu.
Da war das Haus. Jens klingelte, die Tür ging auf und eine junge Frau sah sie neugierig an. Jens fragte verwirrt „Lisa?!g, die Frau sprang ihm entgegen, packte ihn, umarmte ihn, küsste ihn c Leo beugte sich zu Sina und flüsterte: „Also Papa war Rahman cg Da hatten die beiden schon Frauenhände auf den Schultern.
„Na, da hast du dir ja ganz schön Mühe gegeben. Gleich alles doppelt! c Wer von euch ist Sina?g
Sie blieben lange. Lisa sprudelte nur so über beim Erzählen. Die Mädchen lachten laufend. Einige der Geschichten, die diese Frau erzählte, hatten sie schon von ihrem Vater gehört, aber nie so lustig. Jens staunte. Sie waren zu viert in Lisas „gute Stübcheng hochgegangen. Es sah aus, als wäre Lisa nie weg gewesen, aber vor allem unterhielt sich Lisa mit ihm und den Mädchen parallel. Es fiel kaum auf, so schnell erzählte sie, und mitunter dachten die Mädchen, sie wären angesprochen, wenn Lisa auf JensL Frage antwortete. Für Sina und Leonie ein gelungener Nachmittag, für Jens weniger. Was wusste er jetzt Neues? Lisa hatte „keine Zeitg für eine feste Bindung mit Mann und Kinder gefunden und ihre Kugel lag verborgen unter dem Silit. Wenigstens freute sich danach die Familie. Die Kinder schwärmten von der verrückten Lisa, die „Papa echt tot gequatschtg hätte, und die anderen freuten sich, dass es Jens offensichtlich wieder besser ging.
Abschied
P„Marcus, der Rest ist Routine, nicht mehr unsere Sache. In zehn Tagen ist der Ring wegradiert. Für uns ist anderes wichtiger.g Petra lief etwas langsamer. „Wir müssen an die Mittel des Europäischen Forschungspreises ran. Im Moment kann keiner gegenhalten. Wir müssen überlegen, welchen Nutzen wir aus der aktuellen Situation ziehen können. Die Sikroben sind ein Segen für uns. Wir beherrschen sie. Noch sind wir die einzigen. Vor allem gibt es noch welche, die wir gezielt nutzbar machen können.g
Petra merkte, dass Marcus außer Atem kam. Antwortete er nur deshalb nicht? Sie lief zu ihm zurück. „Nicht alternde Baustoffe, Kleidung, was auch immer, dieselben Sachen schützen vor Hitze wie Kälte c Wir müssten irgendwann das Zeug künstlich altern lassen. Aber noch leben Milliarden Erstkunden auf der Erde.g
Zögernd formulierte er seinen Widerspruch: „Aber sollten wir nicht erst einmal an dem arbeiten, was jetzt aktuell ist?g
Petra schien entsetzt: „Was ist denn jetzt aktuell? In Berlin Bauland zu erwerben. Solange die bisherigen Besitzer noch annehmen, dass auf ihrem Land nie mehr jemand wohnen wird. Wir wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, dann geht ein neuer Bauboom los. Wir müssen die Zeit nutzen, in der die Preise noch im Keller sind. Wir müssen unser Geld arbeiten lassen.g
„Und die Forschung?g
Petra merkte es der gequälten Stimme an, wie sehr Marcus mit seinen Zweifeln kämpfte.
„Was die Sikroben sind, was es mit den Kristallen auf sich hat?g
„Machen wir weiter! Die Tropfen werden für uns arbeiten. Und der Kristall? Den zähmen wir schon. Erstmal gilt es, den Erfolg unseres Spektakels zu barer Münze zu machen. Jetzt, verstehst du?g Petra war stehen geblieben. Ein ältliches Pärchen auf einer der Bänke sah interessiert zu ihnen herüber. Petra dämpfte die Stimme. „Patente anmelden, fremde Nutzung ausschließen, Grundstücke erwerben, Firmen gründen. Unsern Kuchen backen. Marcus, welche Firma willst du? Soll ich dich zum Forschungsleiter machen? Vielleicht Forschungsdirektor? Das klingt besser.g
Marcus zögerte. Gleich würde er nein sagen. Das spürte Petra. Also fuhr sie, den Lauf in Richtung Umkleidekabinen etwas beschleunigend, fort: „Oder möchtest du lieber ein eigenes Labor? Willst du eine Auslandsvertretung? Mensch, sei nicht so langweilig! Träum doch mal! Vielleicht Aufsichtsratsvorsitzender oder Vertriebsleiter Amerika? Egal, was es ist. Greif zu!g
„Wenn ich dich nicht besser kennen würde, bekäme ich jetzt richtig Angst vor dir. Aber ich glaub nicht, dass du das durchziehst, nein, ich glaubs einfach nicht.g
„Ach Marcus, du hast keine Ahnung. Dies ist unsere Chance, Sieger zu werden.g Petra hielt die Klinke der Tür mit dem Frauen-Piktogramm schon in der Hand, sah aber dem verschwitzten Partner noch einmal direkt ins Gesicht. „Die kommt so nicht wieder. Nie! Bitte ...g
„Lass mir Zeit!g
Einer der drei anderen Assistenten im kleinen alten Herbst-Labor behauptete später, er habe Marcus am darauf folgenden Abend mit einem nagelneuen Rucksack am Bahnhof gesehen. Dass der Lieblingsassistent der Petra Herbst auf Weltreise gehen wolle, ohne sich zu verabschieden, habe er für einen misslungenen Scherz gehalten. Petra winkte ab. Das sei eine Privatsache.
Mit Marcus ging es mir wie mit Hardy. Alle Spuren verliefen im Nichts. Ich habe niemanden gefunden, der mir hätte sagen können, was aus ihm geworden ist. Vielleicht lebt auch er noch. In Australien bei den Aborigines oder auf Patagonien oder in der Tundra, in Kanada c wer weiß.
Was hatte sich verändert?
Petra Herbst war zur Sensation geworden. Reich, erfolgreich, umschwärmt. Ich mag nicht darüber urteilen, ob sie es verdient hatte. Ich endete wie Jule als das, als das ich auch in die Ereignisse eingestiegen war: ein Schülerin auf einem Provinzgymnasium. Na, für die Schlagzeilen in alle Welt hätte ich mich weniger geeignet. Oder vielleicht doch? Wär doch das Gaudi gewesen: Ein Foto meiner Eberswalder 11. Klasse. Alle mit Jeans und ordentlich angezogen und ich dazwischen c hätte mir extra so ein Bayerisches Dirndl ausgeliehen. Hauptsache, die Anderen kämen nicht etra und Marcus hatten die Montage von zwölf Generatoren vorbereitet. Jetzt Hilfskräfte zu finden war kein Problem. Endlich konnten sie sogar eine kurze Pause einschieben. Wie früher unternahmen sie einen Parklauf.uf der Fahrt war Jens fast so aufgekratzt wie Sina und Leonie. Wenn das alles vorbei sei, sollten sie mal richtig in den Urlaub fahren sollten, nicht immer nur im Quadder baden, das werde irgendwann langweilig, und selbst, wenn sie sich noch so viel Mühe gäben, ein echter Urwald würde ihr Garten natürlich nicht. Außerdem sei Geld dazu da, ausgegeben zu werden.on Tag zu Tag breiteten sich die Sikroben schneller nach allen Seiten aus. Inzwischen bedeckte die Silitwüste nicht nur fast das gesamte ehemalige Berlin, sondern weite Flächen im Umland.ürodienst?! .Bei diesem Gedanken ging es ihr weder besser noch schlechter. Dem Kristall schien ihr Gedanke egal zu sein. Sie hatte schon entschieden, am nächsten Tag weiterzumachen. Oder hatte die Kugel ohne Hülle keine das Gemüt beeinflussende Wirkung? Das fand Petra wenig wahrscheinlich. Sollte sie nicht wenigstens noch ein wenig aufräumen? Plötzlich hatte sie das Gefühl von Nadeln, die sich in ihre Schläfen bohrten. Also nicht. Sie wehrte sich nicht. Die Alarmanlage aktivierte sich wie immer automatisch in dem Augenblick, in dem hinter ihr die Tür zufiel. Erst auf der Straße fiel Petra ein, dass sie ihre Zwillinge gar nicht abzuholen brauchte. Darum hatte sich ja die Nachbarin gekümmert.ach ihrem Besuch in Sternekop stürzte sich Petra mit neuem Elan auf ihre an Überstunden reiche Forschungsarbeit. Dazwischen quälten sie Zweifel. Was brachte das alles? Die zahllosen kleinlichen Versuchsreihen? Arbeitsalltag eintönig und schwer? Dabei war schon alles zu spät, die Menschheit war längst verloren ・ oder das Herbst-Institut brachte der Welt die große Rettung. Wer sonst c Als Nebenprodukt c Wie witzig!ardy genoss das Leben. Näswerder, das viele Verprügelt werden und die Notgemeinschaft der Kugelbesitzer lagen weit hinter ihm. Er verschwendete keine Zeit an Erinnerungen. Rahmans Kugel hatte für ihn von dem Moment an ihren Reiz verloren, als sie nicht sofort ihr Geheimnis preisgegeben hatte. er Berliner Senat beschloss nach eingehender Debatte, seine Beratungen in Magdeburg fortzusetzen. Dort nahm er Pläne für Evakuierungsmaßnahmen und Notversorgungen für Hunderttausende Flüchtlinge an. Solche Entschlossenheit beeindruckte die Welt. Immerhin überwog international die Überzeugung, der exakt eingegrenzte Katastrophenherd wäre beherrschbar ・ alles nur eine Frage der Zeit. Kein Ende der Menschheit in Sicht. Was nun die Sikroben waren, wo sie herkamen, aber vor allem, was man gegen sie machen konnte, da gingen die Meinungen nicht nur in den Parlamenten und Ausschüssen weit auseinander. Die Menschheit war schließlich bisher noch von keiner Erscheinung bedroht worden, von der eigentlich nicht mehr klar war, als dass schnell etwas unternommen werden musste, um ihrer Herr zu werden. So eine Bedrohung sollte das Gemeinsame einer Intelligenz hervorkehren. Nicht Mensch gegen Mensch, sondern alle Menschen gegen Unbekannt. Aber die größten Erfolge bestanden im Moment in den Papieren, die eindrucksvoll verschraubt formulierten, dass man hilflos war. Für die Amerikaner dagegen war die Sensation noch zu weit weg. Ansonsten gab es wohl auf der ganzen Erde kein Gremium mehr, bei dem die Sikrobeninvasion nicht wenigstens einmal auf der Tagesordnung gestanden hätte. In Europa waren sieben Institutionen entstanden, die sich mit der Koordinierung aller verfügbaren Mittel der humanitären Hilfe, der Forschung und der operativen Sikrobenbekämpfung beschäftigten. Die Amerikaner boten an, den gesamten Katastrophenherd mittels Antimaterie von der Landkarte zu löschen. Beseitige man den Flecken, beseitige man damit auch die Sikroben, also das Problem. Darüber hinaus deuteten sie an, dass weitere technische Kapazitäten aus dem Weltraum auf Berlin gerichtet wären. Petra lächelte. Ob Jens wohl nach Rahmans Kugel fragen würde? Bestimmt. Der war so. Aber die anderen würden sie wohl vergessen haben. So wie Petra. Warum auch nicht.isa hatte inzwischen viele Arbeitsstellen hinter sich. Hätte ihr zwischendurch jemand erzählt, sie würde ausgerechnet in der Deutschen Arbeitsvermittlungsagentur enden, hätte sie eine überhöhte Körpertemperatur vermutet. Nicht sehr wahrscheinlich. Jetzt begeisterte sie diese Aufgabe. In einem komplexen internationalen Vermittlungsprojekt waren die Mitarbeiter der Agentur gefordert. Sie suchten für die unterschiedlichen Anforderungsprofile die richtigen Bewerber. Lisa war ein Sprachtalent. Natürlich wurde von jedem Bewerber erwartet, dass er deutsch sprach, wenn er in Deutschland Arbeit suchte. Ging es aber darum, frühzeitig Talente zu vermitteln, dann war es von Vorteil, wenn der Vermittler die Sprache der zu Vermittelnden beherrschte. Ohne zu überlegen, wofür sie das später einmal verwenden könnte, hatte Lisa angefangen, Kontakte zu Familien auf dem ganzen Erdball zu knüpfen. Es machte ihr einfach Spaß, viele Leute zu kennen.. onja Zarge konnte es auch später nicht lassen, zwanghaft schlichtend in Raufereien zwischen Schülern einzugreifen. Jedenfalls wurde sie Lehrerin und „die Zargeg. Sie wollte natürlich im Vergleich zu ihren eigenen Lehrern alles besser machen. Aber dann landete sie, von ihrem Partner mit Zwillingen sitzengelassen, in meiner öffentlichen Eberswalder Schule. Also eigentlich landete ich ja bei ihr, und für Uneingeweihte sollte ich noch erklären, dass dieses Eberswalde eine Provinzkleinstadt war, viele Kilometer lang gezogen, nur etwas über 50 Kilometer von Berlin entfernt, aber vielleicht gerade deshalb die ätzendste Ecke im Universum. Eine Strafe, die über die arme Zarge gekommen war mit überfüllten Klassen und genervten Kollegen, deren einzige berufliche Freude zu sein schien, wieder eine Unterrichtsstunde zwischen uninteressierten Schülern hinter sich gebracht zu haben. Bei der Zarge mussten die Schüler zwar selten nach vorn sehen, ansonsten hatte sie sich dann aber doch schnell mit den gängigen steinzeitlichen Unterrichtsmethoden abgefunden. Vielleicht war sie auch nur zu theoretisch veranlagt für den Lehrerberuf. Sie träumte noch immer davon, wie er eigentlich sein müsste, aber von ihrem anfänglichen Enthusiasmus war kaum etwas übrig. er Block Hellersdorfer Straße 93 ・ 111 war besonders verkehrsgünstig gelegen. So stand es einschlägig verständlich in Immobilienanzeigen, und wer hierher kam, sah sofort warum: Hier kreuzten sich zwei Hauptstraßen des östlichen Berlins und schräg gegenüber lag der U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord ...
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