Testuden und Aerobolde
Inhalt
Endlich
Tote Wespen zählen
Die Oase in der Kalahari
Geplänkel
Ein unverhofftes Ende
Die Rutengänger
Nicht jedem eine Kugel
Lichtschranken um eine falsche Idylle
Zauberlehrlinge
Die zweite Berliner Plage
Die Verführung eines Helden
Die letzten schlafenden Hunde sind geweckt
Reichtum auf Erden
Ruhe vor dem Sturm
Der Zug der Testuden
Stiefkinder der Hölle
Vor der Entscheidung
Wie gewonnen so zerronnen
Endlich
Was sollten wir tun? Der Schrecken, den die Sikroben verbreitet hatten, war vorbei. Ja, besser noch: Aus der Horrormasse war etwas geworden, was über eine Unmenge nützlicher Artikel das Leben für uns Menschen verbessert hatte. Petra Herbst hatte das zum reichsten Menschen der Erde gemacht. An einem änderte das aber nichts: Was denn die Sikroben eigentlich waren, wusste immer noch niemand. Es war nur zu ahnen, dass es mit jenen merkwürdigen Kugeln zu tun hatte, die vor übe zwei Jahrzehnten sieben Kinder zu einem Schwursymbol gemacht hatten. Logisch, dass zumindest Jens an dem Problem dran blieb. Es war zwar nicht mehr offizieller Dienst, aber so ein klein wenig verknüpfte er dann doch sein Privatleben mit seiner Möglichkeit als Dienststellenleiter der Polizei. Und Granzner erwies sich da als zuverlässiger Kollege. Ganz zufällig wollte er einen Freund in Hamburg besuchen und schon ließen sich mehrere Dinge miteinander verknüpfen. Vielleicht gäbe es doch eine Spur von Hardy. Richtiger: Von seiner Kugel. Denn so, wie er verschwunden war, schien unwahrscheinlich, dass er seine Kugel mitgenommen hatte. Dass er sie in seiner letzten Wohnadresse noch besessen hatte, war zwar auch nicht wahrscheinlich, und befragen konnte ihn niemand. Aber die Adresse war die einzige Spur. Mitunter war keine Polizeiarbeit ohne ein Körnchen glücklichen Zufalls zu bewältigen.
Keine Stunde später stand Granzner am Rande eines riesigen Müllplatzes. Das Auftauchen eines Polizisten verwirrte die Mitarbeiter der Entsorgungsfirma zuerst sehr. Umso entspannter reagierten sie, als sie erfuhren, worum es ging. Natürlich, an diesen Typen, so einen falschen Italiener, erinnerten sie sich gut. Er habe einen Komplettpreis ausgehandelt. Aber das meiste war zur Ersatzteilgewinnung ungeeignet. Da habe ein sehr moderner Mensch ohne Individuelles gewohnt. Da war Schreddern das Beste. Eine Kugel? ・c Ja, doch, kann sein. So ein komisches Ding ・c Lorry, wo hast du denn die Kugelstoßkugel hingeworfen, die so leicht war?
Der Fleischgesichtige, den die anderen Lorry gerufen hatten, schlurfte schräg über den Platz. „Wissen Sie・, er musterte den Besucher abschätzend, „das Ding ist wirklich etwas Besonderes. Damit können Sie bei Ihrer ganzen Verwandtschaft Eindruck schinden・c・
Der Dienstausweis brachte ihn zum Schweigen. Tatsächlich kramte er schließlich aus einem Haufen absolut ungeordnet bei- und übereinander liegender Reste eine Kugel hervor, die Jens・L Beschreibung entsprach. „Die ließ sich nicht schreddern・, murmelte er dabei verlegen.
Tote Wespen zählen
I
Jana und Tina ließen die Fototermine mit ihrer Mutter gleichmütig über sich ergehen. Immer lächelnd. Petra schauderte es manchmal. Für Sekunden war ein fremder, unheimlicher Gesichtsausdruck zwischen den Kindermasken aufgetauscht. Oder bildete sie sich das nur ein? Petra versuchte, so viel Zeit wie möglich mit den beiden zusammen zu sein. Sie lieb zu haben und zu beobachten. Jana und Tina waren trotz des Trubels rundum ausgeglichen und gleich bleibend lieb zueinander. Auch zu ihr. Eher zu lieb. Wenn die beiden doch bloß irgendetwas Verrücktes gemacht oder ein paar pubertäre Frechheiten gesagt hätten! Egal was: Im Schultreppenhaus mit Jungs geknutscht oder wenigstens geraucht, obwohl oder gerade weil sie dafür noch zu jung waren. Nichts dergleichen. Petra konnte Jana und Tina sagen, was sie von ihnen erwartete, und sie erfüllten alles mit penetrant gleichmütiger Freundlichkeit. Sie boten nicht den geringsten Anlass für Ermahnungen. Nein, sie war als Kind anders gewesen.
Später hätte sie nicht sagen können, welcher Teufel sie geritten haben mochte. Sie beantragte einen umfassenden genetischen Check der Kinder, einen Vergleich mit sich, die Überprüfung aller Möglichkeiten, bei welchen Krankheiten Prädispositionen bestünden, und Ratschläge, was sie eventuell vorbeugend dagegen unternehmen könnte.
Zu Beginn des Auswertungsgesprächs stotterte die Ärztin. Es sei ・c Also sie könne sich nicht vorstellen, wie das passiert sein sollte ・c Sie könne nur vorschlagen, die ganze Untersuchung zu wiederholen ・c
Petra drückte ihren Rücken durch. „Also rundheraus: Was hat ihre Untersuchung ergeben?・
„
„
„
Petra war schon während der kurzen Rede der Ärztin aufgestanden. Jetzt fiel sie ihr ins Wort. „Danke, vielen Dank! Mehr konnte ich nicht erwarten. Tut mir Leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe, aber ich möchte die Sache dann doch nicht weiter verfolgen. Danke ・c・
Auf Wiedersehen sagte sie nicht. Minutenlang hatte ihr Gehirn nur Platz für ein Wort: Aliens. Natürlich war keine Probe verwechselt worden. Ihre Kinder waren tatsächlich konstruierte Geschöpfe, die sie zu was auch immer aufziehen sollte. Vielleicht entpuppten sie sich bald als Monster. Alles eine Frage der Zeit.
Halt! Was war mit Jens und Sonja? Deren Kuckuckspärchen? Die Lösung lag in den Kugeln. Die hatten aller Wahrscheinlichkeit das Problem geschaffen ・ die würden es auch auflösen, wenn sie nicht selbst darauf kam. Aber sie würde darauf kommen!
Beim Einschlafen halfen starke Medikamente. Aber am Morgen dieselben Fragen: Was sollte sie tun? Womit hatte sie das verdient? Hatte sie nicht dieselben Zwillinge wie vorher? Doch was immer sie dachte und tat: Sie konnte Tina und Jana nicht mehr so unbefangen sehen wie bisher. Egal, was sonst geschah: Die Angst würde bleiben.
Petra nahm sich immer mehr Zeit für neue Versuche mit den beiden Kristallen, dem, den sie von Jens hatte, und dem, den sie ganz leicht aus der polizeilichen Asservatenkammer ausleihen konnte, als sie plötzlich die Petra Herbst war. Nur wenige Eingeweihte wussten um das, was in dem provisorischen Labor im Plagwitzer Park vor sich ging. Anfangs kamen am laufenden Band Patente dabei heraus. Die hingen noch immer mit den Sikroben zusammen und Petras In-Sich-hinein-Horchen, welche Ideen die Kristalle mit Freudenschauern belohnten. Petra schloss die einzelnen Entwicklungslinien für sich ab, sobald jemand die Gewinnerwirtschaftung für sie übernahm. Mit angemessener Gewinnverteilung ・c versteht sich ...
In der Öffentlichkeit galt Petra Herbst als gesellig, witzig, eine Bereicherung für jede Society-Party. Aber war das die Macht, von der sie geträumt hatte? Dass sie ihre Abende mit Schmarotzern vergeudete? Typen, die ihr Gehabe von der Leistung irgendwelcher Urahnen ableiteten? Welche auch immer das gewesen sein mochten? Die, die jetzt ihre ererbte Macht demonstrierten, konnten doch gerade mal für Fotos posieren ・c War es nicht viel lohnender, die Geheimnisse dieser Welt zu erforschen? Da waren Kräfte in den Kristallen, die alles bisher Aufgetretene in den Schatten stellen konnten.Petra spürte das, war sich dessen eigentlich auch ohne die euphorisierende Stimmung durch die Kristalle sicher. Aber welche konnten das sein? Wie sollte sie nach etwas suchen, dessen Wesen ihr unbekannt war? Manchmal schlug ihre Stimmung von einem Extrem ins andere, und auch das offenbar ohne Stimulation durch die Kräfte der Kristalle. Manchmal verabscheute und begeisterte sie sich fast im selben Moment. Obwohl ・c woher sollte sie wissen, welche Laune sie nun den Kugeln verdankte und welche nicht. Als sie innerlich geulkt hatte, vielleicht bestärke sie die eine Kugel bei etwas, bei dem die andere sie bremsen mochte, hatte sie keinen Ausschlag der Gefühlskurve gespürt.
Auf jeden Fall brauchte sie mehr Möglichkeiten für unbeachtete Untersuchungen. Sie kam sich zurecht von einer Mischung aus Sensationsreportern und potentiellen Werksspionen umgeben vor. Doch auch dafür gab es eine Lösung: Mit einem gigantischen „Mega-Projekt・ des „Herbst-Imperiums・ lenkte Petra das Medieninteresse von ihren Untersuchungen in Plagwitz ab: Unter Leitung des weltberühmten Parici wuchs am Rande von Berlin ein gewaltiger Gebäudekomplex. Sein Kern war der Wolkenfinger, ein Silitbau, der weithin von der Macht der Herbst-Unternehmen zeugte. Dort würden die modernsten Forschungen der menschlichen Zivilisation ihre Heimstatt haben. Solche und ähnliche Floskeln trieften aus den bunten Blättern. Petra verkürzte die tägliche Zeit ihrer „Medienrezeption・ immer mehr.
Dann・c
Eigentlich ging es nur um einen im Vergleich zu den zurückliegenden Berliner Ereignissen kleinen Zwischenfall. Aber fast hätte er die Neugierde der Klatschpresse auf ihre tatsächlichen Forschungen ausgerichtet ・ und zwar auf Testreihen, von denen auch die meisten Mitarbeiter nichts wussten und von denen die Öffentlichkeit auf keinen Fall erfahren sollte.
An drei aufeinander folgenden Tagen flogen und krabbelten Insekten unterschiedlichster Gattungen in absolut gerader Linie auf den Plagwitzer Park zu. Am ersten Tag dauerte diese Völker-Wanderung fast zwei Stunden, am zweiten und dritten nur Minuten. Trotzdem. Es fiel auf. Im Umkreis von über 100 Kilometern um das kleine alte Herbst-Labor hatten sich alle Insekten auf die Reise dorthin gemacht, als wären sie sehr eindringlich gerufen worden. Extreme Forschungen? Auf jeden Fall extreme Spekulationen. Und beeindruckende Bilder: In unmittelbarer Nähe des alten Instituts hatten sich die Insektenwolken so dicht zusammengeballt, dass es zur Mittagszeit stockdunkel und die Fortbewegung von Menschen außerhalb abgedichteter Räume ausgeschlossen war. Aus dem Park drang danach der Gestank von Verwesung und Verbranntem.
Urplötzlich endete der Zug. Von einem Moment zum nächsten stoppten die Tiere dort, wo sie gerade waren. Unzählige wütende Bienen- und Wespenvölker fielen in Leipzig über ahnungslose Passanten her. Was bedeutete das?
Vielleicht wäre die Erscheinung weniger beachtet worden, da sie nur für so kurze Zeit aufgetreten war, aber irgendein Amateur hatte gerade am Völkerschlachtdenkmal gefilmt. Er verdiente mit seinem Chaosfilm nicht nur viel Geld, sondern er löste damit eine regelrechte mediale Kalauerei um „Völker-Schlachten・ und „Völker-Wanderungen・ aus.
Am Abend des zweiten Tages saß Petra mit ihren Zwillingen zusammen vor dem Bildschirm. Dort wurde aus einer Pressemitteilung ihres Unternehmens zitiert, die erklärte, dass es in Plagwitz einige unerwartete Nebeneffekte bei einer Versuchsreihe zur Untersuchung der Grundlagen der Sikrobenkatastrophe und der Verhinderung ihrer Wiederholung gegeben habe. Man möchte sich bei der Bevölkerung wegen unbeabsichtigter Belästigungen entschuldigen. Petra atmete auf. Das würde hoffentlich die Lokalpresse beruhigen. Jana und Tina merkten gar nicht, dass es um das Labor ihrer Mutter ging.
Leider überfielen am dritten Tag die Insekten, plötzlich der Orientierung auf ihr Ziel, den Kristall beraubt, mehrere Radfahrer. Sie verursachten damit Verkehrsunfälle mit mehreren Toten und Verletzten.
Was also tun? Solche Insektenwanderungen durften natürlich nicht wieder auftreten. Die Kristalle mussten verhüllt bleiben. Nur war so keine Forschung mehr an ihnen möglich, höchstens ein paar Sikrobenpatente hätte Petra vielleicht noch ansteuern können. Inzwischen primitive Routine.
Petra sah nur einen Weg, wie ein scheinbar unlösbares Problem eben doch gelöst werden konnte: Weitermachen in einer Gegend, wo sie fast unbeobachtet arbeiten konnte, wo sogar ein solches Öko-Chaos wie diese Insekteninvasion nicht sofort lauter besser wissende Mediengeier anlockte. Sie brauchte einen Ort, an dem sie unbemerkt von der Öffentlichkeit Forschungen betreiben konnte, deren Neben- und Haupteffekte wenig vorhersehbar waren. Wobei sie natürlich nicht jede Verbindung zur Umwelt kappen durfte. Es war ja unwahrscheinlich, dass diese plötzliche Anziehungskraft auf Insekten ein Zufall war. Der günstigste Kompromiss zwischen allen Faktoren für einen solchen Standort schien ihr der namibische Teil der Kalahari zu sein. Der Untergrund ließ Bautätigkeit zu, die Versorgung mit Wasser und allem Lebensnotwendigem war schwierig, aber möglich, in relativ weitem Umkreis bestand relativ wenig Gefahr für Menschenleben, aber vor allem: Fremde kamen schwerlich unbemerkt in die Nähe der Anlage.
Petra ließ Baracken errichten, die Möglichkeiten für eine künftige Wüstensiedlung erkunden. Sie führte Gespräche, um eine Mannschaft zum dauerhaften Arbeiten vor Ort zusammenzustellen. Sie schmierte schnell alle bürokratischen Hürden weg. Ohne Aufsehen wurden die beiden Kristalle in die „Oase・ gebracht. Sicher würde Petra nur gelegentlich selbst in ihrem Kalahari-Camp arbeiten. Weder sollte an die Öffentlichkeit dringen, welches ihr wichtigstes Projekt war, noch war vorherzusagen, wie lange es bis zu den ersten Erfolgen dauern würde. Das Neue war nur eine vage Hoffnung ・ genau das, was sich Petra jetzt wünschte. Das machte die Tarnung als angepasste Party-Löwin wieder erträglich.
Ihr Pressesprecher gab über das, was im Plagwitzer Labor geschehen war, noch zwei unverbindliche Erklärungen ab. Sollten sie doch spekulieren! Das alte Institut wurde geschlossen und blieb abgesperrt. Der Park war lange nicht nutzbar. Viele Reporter versuchten, bis zu den Laborräumen vorzudringen. Einem gelang es trotz der eingesetzten Sicherheitsfirma, Fotos zu schießen und eine Tüte voll verschmorter Wespen herauszuschleppen. Letztlich behielt Petra Recht: Andere Schlagzeilen forderten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Petra ließ die Gebäude abreißen und unterstützte die Renaturierung des Parks mit einer großzügigen Spende.
Aber nun fehlten ihr die Kristalle. Ohne deren Einfluss war Petra eine normale Forscherin und Unternehmerin. Nichts verriet ihr mehr, ob sie eine Überlegung weiter verfolgen sollte oder nicht. Sie musste Sackgassen riskieren. An ihr nagte eine heimliche Angst. Hatte sie von den Kristallen eigentlich Ratschläge im Zusammenhang mit ihren Kindern bekommen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Und dem eigentlichen Geheimnis der Kristalle war sie nur wenig näher gekommen. Sie sehnte sich nach dem Süden Afrikas. Ohne dass sie dafür der Hilfe der beiden Kristalle bedurft hätte, kam ihr ein neuer Gedanke. Vielleicht brauchte sie die restlichen Kugeln? Ob nicht Jens ・c? Er war am weitesten mit seinen Überlegungen zu den Kugelwirkungen. Es sollte sie nicht wundern, wenn er längst die anderen Kugeln aufgestöbert hatte.
Und die Kristalle, die sie schon besaß? Auf jeden wirkten sie nicht. Aber warum auch immer ・ auf diese ausgeflippten Schülerinnen ・c Vielleicht eigneten die sich als so etwas wie Minensuchhunde für die nächste Forschungsetappe? Wer konnte denn sagen, welche Kräfte diesen Kristallen noch entstiegen?
Die Oase in der Kalahari
Die letzten Häuser Windhuks lagen hinter, eine stundenlange Fahrt vor uns. Inzwischen hatte der Jeep den alten Trans-Kalahari-Highway verlassen. Wir fuhren auf einem Mittelding zwischen moderner Straße und Wüstenweg, extra für das Projekt der Herbst-Gesellschaft neu angelegt. Seit Aroab rasten wir direkt in die Wüste hinein. Die Lust zum Quatschen war weg. Jule hockte schweigend neben mir. Ob sie meine Zweifel ahnte? Wohl kaum. Sie war einfach nur glücklich über ein völlig unerwartetes Abenteuer.
Und ich?
Oh Mann ・c Schon als Kind hatte ich ja eine große Forscherin werden wollen. Biographien solcher Frauen verschlang ich wie Schokopudding. Eigentlich war ich danach auch stinkig: So viel hatte die Menschheit von den Geheimnissen der Welt schon herausgefunden! Wäre da überhaupt noch etwas für mich übrig?
Das letzte Idol war dann Petra Herbst, die Frau des Jahrhunderts. Ich sammelte alle Artikel über sie. Geheimnisumwitterte Erfolgsfrau, große Unternehmerin, einfach stark. Mehrmals begann ich einen Brief an sie. „・c Lachen Sie nicht: Ich habe ja selbst versucht, den schrecklichen Sikroben entgegenzutreten. Wie gern möchte ich richtig wissenschaftlich arbeiten, mich so wie Sie mit zielgerichteter Forschung dem Geheimnis dieses Unheimlichen annähern. Jeder Tag muss bei Ihnen einfach etwas Spannendes sein. So möchte ich auch leben. Aber ich bin nun mal erst in der zehnten Klasse. Jahrelang werde ich mich noch mit viel unnützem Zeug herumplagen, und vielleicht sind die letzten Entdeckungen schon gemacht, wenn ich meine Papiere habe, um dabei mitzumachen. Aber vielleicht ・c・
Weiter war ich nicht gekommen. Worauf hätte ich mich berufen sollen, um eine solche Berühmtheit davon zu überzeugen, dass sie ausgerechnet irgendeine Eberswalder Schülerin nötig hatte? Mich? Also landeten meine Briefe im virtuellen Papierkorb, im Müll.
Dann Leipzig. Ich verschlang alles, was darüber erschien. Seltsam. Kein Artikel bot eine Erklärung an, was eigentlich passiert war. Ein Unfall. Was mochte das für eine Nebenwirkung sein, die alle Insekten anzog und sie dann als verwirrte Bestien sich selbst überließ? Es gab also auch jetzt noch gefährliche Forschungen.
Ich quatschte die Zarge an. Die sah mich mit einem schrecklich verständnisvollen Muttergesicht an. „Aber Marie, was hast du zu bieten? Meinst du, die warten auf dich?・
Ich saß bei ihr auf so einer Sitzcouch, die bestimmt mal der letzte Schrei gewesen war, sah sie eindringlich an, also die Zarge, und bemerkte trotzdem, dass eine Wandfläche ihres Wohnzimmers mit Kunstpostern beklebt war. Also nicht mit Bildern in Rahmen. „Frau Zarge, sehen Sie, später gibt es bestimmt einen neuen Grund, warum alles nicht so wird, wie ich möchte. Sie wissen doch, wie gern ich bei den Zischies mitgemacht habe.・
Die Zarge hatte gelächelt. „Stimmt. Ohne dich hätte unsere Arbeitsgruppe nicht überlebt. Hm. Ich mache dir einen Vorschlag: Diese Bewerbung schreibe ich für dich. So eine Art Gutachten, verstehst du? Ich bin nämlich mal mit der Petra in eine Klasse gegangen. Da zählt mein Wort vielleicht. Wenn・Ls klappt, bekommst du da eine Ausbildung, wenn nicht, dann machst du hier deine Hochschulreife.・
Am liebsten hätte ich sie umarmt. „Klasse! Und kann Jule mitkommen?・
„
„
Ich hatte mich auf eine Ablehnung vorbereitet. Ich wusste ja, die meisten Bewerbungen wurden abgelehnt. Und was passierte mir? Ich wurde zu einem Gespräch bei Petra Herbst persönlich eingeladen. Und die fragt mich, eine Schülerin ihrer ehemaligen Klassenkameradin persönlich, ob ich bereit sei, im neuen Außenlabor in Afrika mitzuarbeiten! Was für eine Frage! Auf jeden Fall besser, als in Eberswalde zu versauern! Und dann sagte sie noch, Julia dürfe auch dabei sein, „weil ihr euch beide so glänzend ergänzt ...・ Na endlich sah das einmal jemand ein. Das war mein erster Gedanke. Bloß dann ・c Dann musste ich natürlich alles haarklein der Zarge erzählen. Die sagte erst, dass sie sich mit mir freut. Aber mit so einem Unterton, dass ich gleich merkte, irgendwas war da nicht koscher. „Die große Chefin selbst. Was die alles weiß ・c・ Das stank nach Zweifel, reichte zum Ärgern und die Zarge wollte nichts erklären. Sagte nur „Schon gut!・, aber eben in der Art, wie wenn sie verschweigen wollte, dass eben nichts gut war.
Ich hielt mein Gesicht in den Fahrtwind. Das sollte das Misstrauen vertreiben. Von wegen „Ich freu mich mit dir ・c Wirklich!・ War ja wirklich komisch. Gleich zur Chefin einer solchen Superfirma. Und dann dieser Satz über Jule und mich ・c Den Rest konnte sie ja von der Zarge haben, aber ・c So interessant waren wir beide doch wirklich nicht!
Jule sah noch richtig blass aus. Eben wie gerade erst in Afrika eingetroffen. Gefreut hatte sie sich sofort über den Vorschlag. Für drei Jahre auf die andere Seite der Erde, wenn das nichts war ・c
Eintönige Landschaft. Nicht einer dieser Kameldornbäume aus dem Kalahari-Buch war nun in der Wirklichkeit zu sehen. Wie ein gebeugter Riese hatte da ein einzelner den Fotografen angezwinkert. Das wäre der passende Empfang gewesen. Statt dessen verschwamm das Savannengras vor meinen Augen mit dem allgegenwärtigen Rot der Wüste. Nicht ein Tier. Hat sich was mit aufregender Safari in die Wildnis.
„…
„…
Sollte Jori noch einen längeren Vortrag vorgehabt haben, wen er gerade mit „uns・ gemeint hatte, so verhinderte das der schnell deutlicher werdende Punkt am Horizont. Jule streckte fast gleichzeitig mit mir die Finger aus. „Ist es das?・
Jori nickte.
„
„
„
Der Jeep passierte ein Flügeltor, ein einheimischer Uniformierter salutierte grinsend. Es war nicht klar, ob vor Jori, der seine Kennkarte an den Leseautomaten hielt, oder vor Jule und mir.
Schon schloss sich das Tor hinter uns. Drinnen machte alles einen nüchternen Eindruck. Flache, weißgraue Baracken, sorgfältig gereinigte Wege, nirgends eine schmückende lebende Pflanze. „Wir hatten Büsche und Bäume angepflanzt, aber die Invasion ・c ihr versteht・, erklärt Jori. „Vielleicht versuchen wir es noch einmal, wenn wir sicher sind, dass wir hier für länger bleiben.・
Ich warf Julia einen fragenden Blick zu. Sie hatte den Unterton anscheinend nicht bemerkt, sah sich wohl gerade in lauter fremden Bildern ertrinken. Eine Heimat für drei Jahre? Viele Wege, gleichförmige Wohnbaracken und mehrere Gebäude, die sowohl Riesenlabors als auch Gemeinschaftsräume sein konnten. Eine kleine, aber absolut nicht zum Bleiben einladende Stadt.
„
„
Jori lächelte. „Nur Geduld. Das machen wir gleich.・ Ihm war die Verblüffung anzumerken. Dass wir sofort nach den Kristallen fragten, zeigte ihm wohl, dass die grünschnäbligen jungen Mädchen sich gründlich auf die Oase vorbereitet haben mussten. So wie wir wirkten ・c Bestimmt hatte er innerlich gestöhnt, was die große Chefin ihm da für Babys aufgehalst hatte.
„
Jori wies uns in den normalen Tagesablauf ein. Das Notwendigste. Danach war es noch hell.
„
Jori lächelte. „Na, wenigstens das wisst ihr noch nicht. Wir haben die Veränderung wohlweislich geheim gehalten. Diesen Kristall hatten wir die ganze Zeit offen liegen. Er war das Ziel der Insekten. Wie ihr seht, ist er inzwischen fast wie ein Kohlkopf so groß. Der zweite ist unverändert. Den haben wir in seiner Schutzhülle behalten. Frau Dr. Herbst ist der Überzeugung, dass der Massenselbstmord der Insekten einen Sinn hatte. Wir kennen ihn zwar nicht, also auch jetzt noch nicht, aber wie sollten wir ihn herausbekommen, wenn wir nicht wenigstens einen der Kristalle sich frei entwickeln ließen. Nur ist aber schon wochenlang nichts mehr passiert. Zumindest konnten wir mit unseren Geräten nichts beobachten. Ihr könntet ihn übrigens auf einer Fingerspitze balancieren. So leicht ist er nämlich trotzdem geblieben.・
„
Jule stand eine Weile reglos neben mir. Jori beobachtete uns schweigend aus den Augenwinkeln. Was machte das schon? Wir fühlten uns merkwürdig berauscht. Abgehoben. Glücklich. Echt starke Wirkung.
„
Jori räusperte sich. „Also, ich will mich nicht aufdrängen, aber wisst ihr noch den Weg zu eurem Bungalow? Wenn ja, dann sehen wir uns morgen um acht in Baracke zwo-zwölf.・
Wir verabschiedeten uns schnell von ihm. Schielten dabei zu dem Kristall hinüber. „Als ob er lebt, was?・ Jule war ganz entrückt.
Ich wehrte mich noch gegen diesen Rausch. „Vielleicht? Aber er ist mir unheimlich. Als ob er mich mit unsichtbaren Kräften anzieht. Ob ich die Sache mit Hellersdorf noch nicht überstanden habe?・
„
„
Wie auf Kommando drehten wir uns um. Ich horchte in mich hinein. Nein, da war nichts, was mich am Gehen gehindert hätte, keine magische Anziehungskraft, nur plötzlich war ich furchtbar traurig. Oder bildete ich mir auch das nur ein?
Morgen kommen wir ja wieder hierher.
„
Ich deutete mit dem Daumen auf den Duschraum. „Willst du zuerst?・
„
War mir komisch! Als ob ein Anderer aus mir sprach. „Also, dann eben zusammen. Spart Wasser.・
Wir verließen die kleine Duschzelle zusammen, trockneten uns gegenseitig ab und legten uns aneinander geschmiegt auf meine Liege. Streichelten uns, berührten uns wie suchende Blinde. Ganz still lauschte ich auf Jules Herzschlag. „Was meinst du: Ob das die Wirkung das Kristalls ist?・
Julia krabbelte mit den Fingern ihrer linken Hand an meiner Wirbelsäule abwärts. „Vielleicht. Die gefällt mir aber, die Wirkung.・
Von nun an machten wir regelmäßig unsere Morgenspaziergänge zum Kristall. Standen einfach glücklich Arm in Arm vor dem Gitter und betrachteten verwundert wie beim ersten Mal den riesigen fremden Körper. Das Gefühl blieb. „Der Stein durchdringt uns, und ich fühle mich dabei echt high. Er mag uns・, fasste Jule es einmal zusammen.
Während der folgenden Tage traten wir überall als Paar auf. Mit Jori kamen wir wunderbar zurecht. Der junge Schwarze ・ übrigens der einzige geborene Namibier im Camp ・ freute sich über unseren nicht erlahmenden Eifer. Wir verlangten nicht mehr, als unsere Aufgaben zusammen erledigen und Pausenspaziergänge zu dem Kristall machen zu dürfen.
Bei einem dieser Spaziergänge sprach ich es zum ersten Mal aus: „Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass etwas mit unserer Rolle hier nicht stimmt? Zwei Schülerinnen zwischen gestandenen Wissenschaftlern? Wo wir nicht einmal die elfte Klasse beendet haben? Und die hier haben sie sicher gesiebt, bis sie die geeignetsten gefunden hatten ・c・
Jule wehrte sich. „Ach, du immer mit deinen Gespenstergeschichten! Freu dich doch!・ Verstand sie meine Zweifel nicht? Was sollte ich tun? Es war doch nur eine vage Ahnung. Ich hakte nicht nach.
Man hatte uns eine eigene Forschungskammer zugewiesen. So hießen im Camp die mal durch Zwischenwände, mal durch einfache Raumteiler voneinander abgetrennten Arbeitsgruppenplätze. Wir hatten keinen Kontakt zu den anderen Gruppen. Allein Jori kam oft und schaute uns über die Schultern. Dann sagte er etwas Aufmunterndes und ging weiter. So viel Selbstständigkeit war mir unheimlich. Zusammen lasen wir unsere Testreihen aus dem Tagesstick ein. Dort waren auch alle Sicherheitsvorschriften enthalten und die Infos, welche Materialien wir aus dem Magazin holen sollten, meist Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände. Dann setzten wir die nach Plan unterschiedlich lange den Sikroben aus. Und dann physikalischen Belastungen. Bei wie viel Gramm Zugkraft riss ein silizierter Faden von 1,0 Millimeter Durchmesser, der vorher ・c und dann folgte die Reihe der Materialien, aus denen das Zeug vorher bestanden hatte. Endlose Reihen an Werten, die wahrscheinlich erst in Form dreidimensionaler graphischer Darstellung Trends erkennbar werden ließen.
Kleinarbeit eben. Dann aber wollte Jule „・cnoch mal kurz in die 14.・ Ich hatte keine Lust, allein mit den Messungen weiterzumachen. Wir mussten sie sowieso immer beim anderen gegenzeichnen. Jetzt war die Gelegenheit. Hellhörig war ich geworden, als Jori gefragt hatte, wie weit wir mit dem Zerrodyn-Projekt wären. Den Begriff hatte sonst keiner erwähnt. Ich hatte noch locker gefragt, „Hä? Zerrodyn?・. Seltsamerweise schaltete Jori sofort weg, sagte „Ach nichts・ und sprach über etwas Anderes. „Ach nichts・ sagt aber niemand so sichtlich erschrocken. Das verfolgte mich.
Ich loggte mich mit Joris Passwort ein, stellte fest, dass Zerrodyn ein von der Herbst Corporation beantragtes Warenzeichen war. Der Zugang zu weiteren, sicher spezielleren Dateien war passwortgeschützt. Joris Passwort? Ich hatte mir seine Zeichenkombination gemerkt. Ich hoffte es jedenfalls. Gespannt starrte ich auf den Bildschirm, auf meine Satellitenuhr・c Okay, bis Jule zurück wäre, war noch Zeit.
„
"
Ich erkannte die Zahlenreihen sofort. Das waren genau die Messreihen, an denen wir im Moment arbeiteten. Manchmal geringfügig abweichend. Allerdings im Gegensatz zu unserem Programm waren die Reihen abgeschlossen. Es waren sozusagen auch die Ergebnisse dabei, die wir noch gar nicht gemessen hatten.
Verdammt, die Zeit! Schnell die Datei schließen. Ich hatte mich gerade der nächsten Messreihe zugewandt, da kam Jule zurück.
Mit den Tropfen zu hantieren forderte ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn Jule in dem Moment mein Gesicht gesehen hätte ・c Was sollte ich denken? Jule? Glücklicherweise gab der Computer gerade die Korrelation zwischen Infektionszeit und Festigkeit grafisch aufbereitet aus.
„
Jule lachte. „Red dich nicht raus: Du hättest schon mehr geschafft haben müssen.・
Auf dem Weg zur Unterkunft schlug ich Jule vor, mehr darüber herauszubekommen, was die anderen im Camp so machten. „・c Das ist doch normal bei einer Ausbildung, oder?・ Ich ließ es nicht bei dieser vagen Ankündigung. Von diesem Nachmittag an machten wir mehrere Ausflüge zu den anderen Arbeitsplätzen der Oase. Aber während jeder Wissenschaftler nur so sprudelte vor Erklärungswut, wenn es um Fragen zu unserem Projekt ging, lenkten alle ab, sobald wir ihnen über die Schultern sehen wollten. Anthra schaltete seinen Oszillator aus, wenn wir hereinkamen. Er unterschätzte meine Augen. Ich hatte es schon gesehen: Hier wurden Strahlungen in unterschiedlichen Wellenbereichen gemessen. Wahrscheinlich von dem Kristall. Auf Anthras Oszillator gab es aber noch eine andere Kurve. Deren Amplitude hatte genau in dem Moment nach oben ausgeschlagen, in dem ich sie sah ・c und Anthra ausschaltete.
„
„
Bildete ich mir das alles nur ein? Bestimmt war es ganz normal, wenn die unbedeutendsten Hilfs-Schüler nicht gleich in alle Geheimnisse der aktuellsten Forschungen eingeweiht wurden. Wir gäben zwar die ungewöhnlichsten Spione ab, so unbeholfen, wie wir noch waren, aber ・c eine Ahnung sagte mir, dass mehr dahinter steckte als normaler Geheimnisschutz. Ich hätte wetten mögen, die Kurve auf Anthras Oszi hatte eine Reaktion in meinem Inneren angezeigt ・c und gleichzeitig kam mir der Gedanke albern vor.
Tag für Tag wurden wir mit Messreihen überschüttet. Ich kam nicht mehr dazu, zu prüfen, ob die schon früher gemacht worden waren. Vielleicht war das nur ein Test, wie gut wir arbeiteten? Das wäre zwar irgendwie unfair ・ so heimlich ・ aber ein Grund zur Begeisterung. Ich wusste ja, wir waren Spitze. Wenn mich nicht gerade das so verunsichert hätte: Wir konnten nicht so gut sein. Woher denn?
„
Jori wimmelte ab, irgendwie ungehalten, so als wäre ihm die Frage lästig. „Quatsch! Das bildest du dir bloß ein. Ihr habt bestimmt nichts angestellt.・
„
Schließlich besann er sich. „Na ja, eigentlich ist nichts, aber ・c Weißt du, du müsstest euch mal sehen. Ihr marschiert da jeden Tag mindestens zweimal zu dem Kristall. Dort steht ihr, als hättet ihr eine überirdische Erscheinung. Oder als betet ihr dieses Ding an und würdet glücklich damit. Für euch mag das natürlich erscheinen.・ Jori zögerte. „Die meisten hier erinnern sich aber an die letzte Phase. Was haben wir gezittert. Täglich kamen von allen Seiten die Insekten. Täglich haben sie sich wie von Geisterhand geführt in den Tod gestürzt. Täglich hätten Regierungsvertreter auftauchen können, um das Projekt zu beenden.・
„
„
„
Jori nickte. „Fragt sich nur, wie.・
„
Jule nickte und antwortete: „Ich wollt・Ls dir nicht sagen. Genauso war mir auch.・
Wir besuchten morgens unseren Glücksstein regelmäßig ・ noch vorm Frühstücken. „Meinst du, wir sind lesbisch?・ fragte Jule.
„
Geplänkel
T
Dann aber meldete sich Petra. „Hast du inzwischen etwas von den anderen gehört? Egal, ob von den Kugeln oder den anderen Verschworenen?・
In dem Moment war Jens so mit der Akte auf seinem Tisch beschäftigt, dass er unwillig murrte: „Das weißt du doch. Wir haben uns schließlich beim letzten Treffen darüber unterhalten. Und Neues gibt・Ls noch nicht.・
„
Jens erschrak. „Nein, nein, Petra, entschuldige! So war das nicht gemeint. Und in den zurückliegenden Tagen hat sich bei etwas Anderem viel getan. Das ist aber ・c Also da sollten wir besser unter vier Augen drüber sprechen. Vielleicht treffen wir uns mal wieder? Am kommenden Wochenende? Wieder bei mir?・
„
Jens versicherte, es habe Zeit.
„
Dann wurde Jens zum Dienststellenleiter befördert. Eigentlich machte ihm die neue Arbeit Spaß. Trotzdem musste er sich erst daran gewöhnen, dass er seine Teams nur kontrollieren und anleiten sollte. Sehr schnell sehnte er sich nach einer Fährte, die er persönlich verfolgen konnte.
Sonja meldete sich regelmäßig. Sie plauderte von ihrer neuen Siebten, gelegentlich tauschten sie ihre Meinungen über das wieder entstehende Berlin aus, der, wenn es nach den Vorstellungen der Planer ginge, künftig modernsten Metropole der Welt. Obwohl im Moment Hunderttausende im näheren und ferneren Umland darauf warteten, überhaupt eigene Quartiere zu beziehen. Petras „Herbst Immobilien AG・ hatte offenbar die meisten mit einer dicken Silitschicht überzogenen Baugrundstücke erworben. Aber bei dem monströsen Gesamtprojekt fielen auch für kleinere Firmen Aufträge ab. Wie sagte Petra im Interview von "Karriere"? „Hier erleben wir die allerletzten europäischen Gründerjahre.・ Jens hatte mit dem Kopf geschüttelt und den Sender gewechselt. Da würde die „Schwurschwester・ sich wohl kaum in Sternekop melden.
Und Sonja und Janine? Jens vermutete inzwischen überall Geheimnisse, denen er auf den Grund gehen musste. Ihre Kinder als Geschöpfe der Fremden würden irgendwann in ihre eigentliche Heimat zurückkehren ・ wenn sie nicht auf der Erde zu Monstern mutierten. Ob die Frauen auch auf solche Idee gekommen waren? Wenn nicht, dann weckte Jens womöglich die Zweifel erst dadurch, dass er sie aussprach? Vielleicht käme Janine nie auf so was? Sina und Leonie keine richtigen Menschenkinder? Quatsch!
Wenn er ehrlich zu sich war, dann waren die beiden für ihn eben nicht mehr nur die netten Mädchen. Am liebsten machte er Überstunden. Dann brauchte er sie nicht anzusehen. Seine Lieblinge, seine Engel. Zugleich Fremde wie diese Klone von Petra und Sonja. War ihre Geburt nicht ungewöhnlich leicht gewesen? Damals war es ihm ganz natürlich erschienen, dass Janine bei den Presswehen nicht geschrien hatte. Jetzt träumte er oft von der Entbindung. Aber anstelle der Köpfchen mit klebrigen Haaren summten zwei riesige mit Schleim bedeckte Hornissen zwischen Janines Schenkeln hervor, und ihnen folgte ein grauer Brei und der Raum war von blauem Schimmer erhellt und er hörte Janine abwechselnd schreien und röcheln und dann hörte er die Hornissen Papa sagen und sie flogen auf ein Fenster zu und vom Splittern des Glases wurde er munter. War er damit ein Fall für den Psychiater? Wahrscheinlich gab es für das Ganze eine einfache Erklärung und die lag einfach in einer Ecke, an die bisher noch niemand gedacht hatte? Sollte er da jetzt seine Liebsten beunruhigen, die solch seltsamen Anwandlungen wohl nicht hatten?
Petra sah die Dinge sicher nüchterner. Wenn es ein Problem mit diesen Zwillingen gab, dann hatte sie das garantiert erkannt, aber wahrscheinlich auch längst gelöst. Mit ihr sollte er unter vier Augen reden.
Die Nummer, die sie ihm gegeben hatte, war offenbar eine geheime. Jens hörte ein merkwürdiges Klicken und sofort hatte er Petra persönlich auf dem Monitor. „Hallo, Petra, weißt du, ich wollte auf unsere Abmachung zurückkommen. Dass wir uns hier draußen treffen wegen der Kugeln und ・c・
„
Jens lud auch Sonja ein. Wenn er Petra allein sprechen wollte, dann bot das Geglucke der beiden anderen Frauen vielleicht die Gelegenheit.
Petra kam mit ihrem E-Car wie immer. Jens hatte allerdings ein Geräusch gehört, als wäre der Wagen bis kurz vor dem Grundstück in Begleitung von mindestens einem zweiten gewesen. Aber vielleicht hatte er sich auch geirrt. Entschieden wehrte sich Jens, einem an Verfolgungswahn grenzenden Zustand zum Opfer zu fallen. Da war einfach nichts. Basta!
Schon bald waren sie alle im Fachsimpeln. Petra erklärte: „Der Kernkristall durchläuft ・ wahrscheinlich mit Hilfe der durch ihn verbrannten Insekten ・ Veränderungen, deren Ergebnis uns noch unbekannt ist. Welche Rolle dabei diese Sikroben spielen, ob sie eine eigene, besonders aggressive Form von Leben sind oder was sonst, ist genauso offen wie ihre Entstehung. Heute darf ich einfach mal spekulieren. Ich sehe da nämlich verschiedene Möglichkeiten:・ Petra sah zu Janine und Sonja. Die erwarteten ihre Spekulationen genauso gespannt wie Jens. „Zum Beispiel könnten sich die Tropfen aus den Resten der Schutzschale gebildet haben ・ eventuell, weil sie mit dem frei gelegten Kristallkern Kontakt hatten ・ oder durch Anregung mit Röntgenstrahlen. Sie könnten Futter für die Kerne sein. Rund um den ersten untersuchten Kern fanden sich nämlich keine Sikroben.・
Jens unterbrach sie: „Sag mal, Petra, das mit der Röntgenanregung wäre doch geklärt, wenn du deine eigene Kugel geöffnet bekommen hättest, ohne sie zu bestrahlen?・
„
Die anderen stockten. „Sie hat sie nicht mehr!・ rief Jens kopfschüttelnd.
„
Jens schüttelte noch immer den Kopf. „Na du bist gut! Experimentierst mit fremden Kugeln, aber vergisst die eigene. Na, lassen wir das. Wir wollten ja jetzt nur unser Wissen abgleichen. Wir haben zum Beispiel noch nicht berücksichtigt, dass die Kugeln aufeinander, zumindest auf die eine schwere, eine unbekannte Wirkung ausüben.・
„
Sonja lächelte. „Ich möchte noch anmerken, dass bestimmte Menschen besonders tiefe Beziehungen zu diesen ・c ich sage mal Strahlen ・c zu haben scheinen. Das muss ja nichts heißen, aber die Marie hat das mit den Gitarren entdeckt, und unter dem Einfluss der Kristalle entfaltet sie offenbar besonders viele kreative Energien. Das hat sie mir begeistert geschrieben.・
Jens hatte sich angewöhnt, aus kleinen Gesten zu lesen. Das brauchte er in seinem Beruf. So fiel ihm auf, dass Petra für den Bruchteil einer Sekunde förmlich erstarrte. Sie warf Sonja einen scharfen, fragenden Seitenblick zu. Die achtete aber nicht darauf. Und dann bemerkte Petra, dass Jens sie beobachtete. Sofort lehnte sie sich demonstrativ locker zurück. In ihrem Blick lag nun nur noch scheinbar durchschnittliches Interesse an Sonjas Ausführungen.
„
Jens machte das hellhörig. Das klang sehr danach, als wollte Petra dem Gespräch die Ernsthaftigkeit nehmen. Wovon wollte sie ablenken? Nach einer kurzen Pause setzte er neu an: „Um eventuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszufinden, müssten die anderen Kugeln untersucht werden. Sonja hat eine. Die kann sie beim nächsten Mal mitbringen, damit Petra sie erforscht. Diesmal sollten wir aber kein Jahr verstreichen lassen.
Ich würde vorschlagen in zwei Wochen treffen wir uns wieder hier. Dann haben wir eventuell Nummer vier. Lisa hatte die schwere Kugel. Ich hab sie gefunden, Lisa, mein ich. Ihre Kugel liegt irgendwo unter dem Silit. Dort, wo mal der Prenzlberg war.・
Dass er die von Hardy gefunden hatte, das war ein Bonbon für das Gespräch unter vier Augen. Irgendetwas hielt Petra ja auch vor ihm geheim.
Das Gespräch irrte wieder ab. Jens warf Petra mehrmals prüfende Blicke zu. Sie suchte dann demonstrativ nach einem Punkt abseits, den sie unauffällig fixieren konnte. Das konnte aber auch Zufall sein.
Abends beim Einschlafen ging Jens noch einmal die seltsame Szene durch. Worauf hatte Petra so komisch reagiert? Wenn er sich richtig erinnerte, an der Stelle, an der diese Marie und ihre Gitarre angesprochen wurde. Sollte das für Petra wichtig sein? Wenn nicht in Bezug auf die Kugeln gerade das scheinbar Unsinnige zusammenzugehören schien, hätte er abgewunken. Aber er durfte nichts übersehen. Ein Glück, dass sie sich wohl bald wieder träfen. Diesmal war es nicht zu dem Gespräch unter vier Augen gekommen. Aber war es nicht seltsam, dass die Superunternehmerin so viel Zeit aufbrachte, um sich mit ehemaligen Schulkameraden im Garten auf dem Lande zu treffen? Von wegen Ausflug mit den Kindern in die Natur. Sie hatte auf die Frage, ob sie denn an dem Samstag Zeit habe, nicht einmal ihren Timer befragt. Als ob sie alle eventuellen Termine an diesem Tag zugunsten ihres Nachmittagskränzchens zurückstellen wollte. Oder von vornherein nicht kommen und sich dann entschuldigen lassen würde ・ nur sie war gekommen.
Gleich am folgenden Montag nahm Jens einige seiner Mitarbeiter zusammen. „Die Berliner Katastrophe ist unter Umständen das Ergebnis einer fremdartigen Substanz, die sich aus uns bisher unbekannten Gründen immer wieder neu bilden könnte・, erklärte er ihnen. „Nach speziellen Nachforschungen hat sich herausgestellt, dass wahrscheinlich mindestens noch drei Personen über den erforderlichen Ausgangsstoff verfügen könnten. Die müssen wir schnellstens finden. Dabei gilt es, kein überflüssiges Aufsehen zu erregen. Wir wollen keine neue Panik auslösen.・
Ein unverhofftes Ende
S
Da hörte ich Joris Stimme: „Hallo? Schlaft ihr etwa?・
„
Ich streckte mich, rieb mir gähnend die Augen, da traf mich Jules Arm. Fast synchron drehten wir uns zur Tür.
„
„
„
Ich sprang hoch, als hätte ich einen Skorpion unter der Decke. Hektisch warf ich mir eine Schürze über. Dann schnauzte ich Jule an, die die Schlafdecke bis zum Mund hochgezogen hatte: „Mensch, komm hoch!・
Schließlich verschwanden wir im Bad. „Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Sonst haben wir unseren Wecker nie gebraucht ・ und heute klingelt er nicht. Wer weiß, wie lange wir noch gepennt hätten, wenn du nicht gekommen wärst.・ Ich versuchte das Rauschen des Wassers zu übertönen.
„
Als wir zusammen den Bungalow verließen, kamen uns etwa dreißig heftig miteinander diskutierende Bewohner des Camps entgegen. Ich lachte: „Wolln die etwa zu uns? Die solln mal nich übertreiben. So schlimm is ja auch wieder nich. Einmal verpennt, eh.・
Die Männer blieben wütend stehen. „Was gibt es denn da noch zu lachen? Mut habt ihr ja, uns vor die Augen zu treten.・
Ich glaube, ich hatte noch die Hände in die Hüften gestemmt. „Nu macht na halblang! Habt ihr etwa noch nie verpennt?・
Einer der Männer, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, sprach den entscheidenden Satz: „Veräppeln könn wir uns alleine. Von wegen verpennt ... Der große Kristall ist weg und dürftet das ja wohl wissen?・
Nun war die Reihe an mir, aus der Bahn zu fliegen. „Wie ・c weg?・
„
Wir schlossen uns der Gruppe an. Am Bungalow kamen wir uns vor wie in einem ausgeraubten Zoo. Wir standen zusammen mit vielen aufgeregten Besuchern vor dem Gitter und sahen nur, dass nichts mehr zu sehen war.
Einer der Männer kam mit einem Schäferhund zurück. Der kläffte wütend und zerrte aufgeregt an seiner Leine. Die Meute folgte ihm diskutierend. „Er hat Witterung aufgenommen・, erklärte Jori uns, als ob wir das nicht selbst wüssten. Doch Spock wurde schnell langsamer. Kurz vor der Tür unseres Bungalows stoppte er. Sein Fell sträubte sich. Er hockte sich hin und fing an, wie ein Wolf zu heulen. Alle Kommandos waren umsonst.
„
Langsam gingen die Teams auseinander. Die meisten zum Gemeinschaftsraum. Anthra wies zwei seiner Assistenten an, uns nicht aus den Augen zu lassen. Drei weitere Wachleute begleiteten uns zu unserem Bungalow. Hilflos sahen wir zu, wie mehrere Assistenten die Räume durchwühlten.
„
Andere Männer stöberten draußen nach einem Versteck. Je länger das erfolglos blieb, umso rücksichtsloser nahmen sie alles auseinander. Natürlich fanden sie nichts. Unsere beiden kleinen Räume aber waren verwüstet.
Petra Herbst kam mittags mit ihrem Privatjet in die Oase. Man holte uns wie aufgegriffene Täterinnen. Es wurde viel spekuliert. Es standen ja nur zwei Dinge fest: Der große Kristall war nicht mehr an seinem bisherigen Platz, und gerade von dem Augenblick, in dem er verschwunden war, gab es keine Aufzeichnungen, da hatte die Alarmanlage versagt. Sie funktionierte inzwischen wieder, und so sehr alle suchten ・ sie fanden keinen Fehler.
Petra redete besänftigend auf die Teams ein. „Ihr habt getan, was möglich war ...・ Was mit uns werden sollte? „Na, habt ihr etwas gegen sie gefunden? ・c Na also! Sie machen ihre Ausbildung weiter wie bisher. Oder gibt es andere Beanstandungen? Schaffen sie vielleicht ihre Aufgaben nicht?・
Beanstandungen gab es nicht. Und unsere Aufgaben?
Der Verdacht, dass wir hinter dem Verschwinden des Kristalls stecken könnten, aber blieb. Natürlich sprach ihn niemand aus. Dabei war Spock, dieser Köter, der einzige, der uns belastet hatte. Und dass wir halt irgendwie anders waren ...
Petra ließ den zweiten Kristall auspacken und auf den Platz des ersten legen. Jule freute sich darüber genauso wie ich. Ohne Kristall wäre es im Camp wahnsinnig eintönig geworden. Und der neue wirkte auf uns sofort genauso wie der alte.
Als sich die erste Aufregung gelegt hatte, lockte ich Jule nachts durch Zeichen aus dem Bungalow. Bald hatten sich unsere Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt. Mit der Taschenlampe bewaffnet näherten wir uns der Stelle, an der Spock sein gesträubtes Fell bekommen hatte.
„
Jule packte mich am Arm. Auch ich hatte es gehört. Ein Geräusch, ein Knacken, vielleicht ein sich nähernder Schritt ・c Nein, um uns herum blieb alles still. Nur ein paar Insekten zirpten. Es gab noch Massen davon. Alle die, die der Kristall angelockt hatte, suchten nun nach Partnern oder Beute. Aber hatten sie nicht einen Moment geschwiegen?
„
Ich hockte vor der Stelle, vor der Spock gestoppt hatte. „Hier ist absolut nichts. Aber ich glaube ・c Die Herbst weiß genau, was sich hier abgespielt hat und jetzt ・c・
Vergeblich versuchte ich, irgendetwas zu erkennen. Das brachte also nichts. Außerdem ・c Ich zerrte Jule wieder hinter mir her in den Bungalow. Als sie dort etwas sagen wollte, hielt ich ihr den Mund zu. Wir kauerten reglos auf unserem Bett. Endlich hörten wir es deutlich. Leise knirschender Sand. Langsam entfernten sich Schritte.
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„
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Ich lag neben ihr. Starrte die Decke an, als könnte ich dort trotz der Dunkelheit etwas erkennen. „Das beschäftigt mich schon die ganze Zeit. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum sie das macht. Dazu kennt sie uns ja viel zu wenig. Wir müssen ihr hier nützlich sein, so wie wir sind.・
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„
„
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Ich schwieg. Sollte ich von der Zerrodyn-Datei erzählen? Wenn ich Recht hatte, brächte uns das in Lebensgefahr.
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„
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Ich lächelte. Jule konnte es ja nicht sehen. Aber mitunter dachten wir doch ähnlich. Ein Glück, dass sich Jule nicht vorstellen konnte, dass ich gerade das beabsichtigt hatte. Die uns da beobachteten, sollten wissen, dass wir uns beobachtet fühlten. Dann verloren wir unseren Wert als Testobjekt. Und dann? Eben da wusste ich nicht weiter. „Kann sein. Und weiter? Das Abhören würde erklären, warum diese Frau Herbst uns so verteidigt hat. Die wusste ja genau, dass wir unschuldig waren.・
„
Wieder verging eine Weile.
„
Schließlich packte ich Jule noch einmal an der Hand. Draußen flüsterte ich: „Du, ich hab ja wirklich keine Ahnung, was wir machen sollen. Aber wenn wir uns das nächste Mal über so etwas unterhalten, dann draußen, wo wir unbeobachtet sind. Noch was anderes: Ich glaub nich an einen Zufall, dass wir ausgerechnet an diesem bekotzten Morgen verschlafen haben.・
Jule zögerte. Ich wollte zum Kristall laufen, aber sie hielt mich zurück. „Wenn du Recht hast, dann werden wir andauernd gefilmt. Bei jedem Kuscheln und so ・c・
„
Jule suchte verkrampft nach einer Antwort. Das war meine Chance. Plötzlich riss ich mich los und rief: „Wer als erster da ist!・ Sollte das jemand beobachtet haben, hätte er bestimmt gedacht, der Kristall wirkte wieder. Jule konnte gar nicht anders. Sie rannte auch los ・c
In den folgenden drei Wochen zogen gewaltige Wolken fliegender Insekten und krabbelnde Wandervölker auf den Bungalow unseres Kristalls zu. Tag und Nacht war weithin Funkenhagel zu sehen. Bei Menschen hätte man wohl gesagt, sie stürzen sich in Massenhysterie in den Flammentod. Aber bei Insekten? Sie zog etwas Unerklärliches an, und dann verschmorten sie in der Luft. Schon von weitem verscheuchte ein penetranter Gestank die Menschen aus der Umgebung des Kristalls. Wenn sich aber Jule und ich dem Bungalow näherten, machte der Kristall eine Fresspause. Ja, er verscheuchte die Insekten sogar. Selbst die kleinsten Fliegen hielten zwanzig Meter Abstand. Die restlichen Campbewohner bewegten sich, soweit ich das mitbekam, zwischen den Insekten wie in einem Bodennebel.
Die anderen Veränderungen im Camp gingen schleichend vor sich.
Petra Herbst hatte einen Alarmplan durchgesetzt. Was auch immer es gewesen sein mochte ・ irgendetwas hatte das Wunderwerk der Sicherheitstechnik im entscheidenden Augenblick außer Betrieb gesetzt. Also hatte sie angeordnet, durchgehend drei Personen von den normalen Aufgaben zum Wachdienst abzustellen. Einer musste ohne Unterbrechung den sich entwickelnden Kristall beobachten. Vorsichtshalber. Weil der Technik nicht zu trauen war. Als doppelter Boden sozusagen.
Die Bewohner mieden uns. Nicht einmal Jori verteidigte uns noch offen. Als ob dieselben Kristallstrahlen, die uns so aufmunterten, alle anderen in knurrige Trauerweiden verwandelt hatten. Nun schaltete nicht mehr nur Anthra seine Anlage ab, sobald wir uns näherten. Überall beäugten sie uns misstrauisch. Das traf mich. Wie ein absolutes Kontaktverbot, ein unausgesprochenes. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Eigentlich durften wir weiter überall hin. Wir erfuhren aber absolut nichts. Die Sikroben-Reaktionstestreihen, ja, die blieben uns.
Ich beneidete Jule. Die glaubte wenigstens noch, dass sie dabei etwas Wertvolles machte. Nur, wenn ich mal mit ihr draußen herumspazierte, mir richtig auf der Zunge lag, was ich damals über das Zerrodyn erfahren hatte, dann tauchte stets wie zufällig jemand in Hörweite auf.
Bildete ich mir etwas ein? Ich merkte ja, wie ich mich veränderte. Da hatte ich laut gesagt, wir machen weiter wie bisher. Aber es klappte einfach nicht. Wenn ich mich bei Jule ankuscheln wollte, schielte ich selber die ganze Zeit zur Decke und zu den Wänden. Von irgendwo dort beobachtete man uns ・c Und schon war die Stimmung weg.
Schließlich hielt es ich nicht mehr aus. Ich bat um Versetzung in die Berliner Zentrale. Jori sagte dazu nur: „Ich unterstütze deinen Antrag.・ Mir kam es so vor, als atmete er auf.
Eine Woche später wurden wir wirklich versetzt.
„
Ich zuckte mit den Achseln. „Vielleicht hat sie längst bessere Medien gefunden. Oder bei dem, was jetzt kommt, würden wir sogar stören. Weißt du, am liebsten hätte ich meinen Antrag gleich wieder zurückgezogen, kaum dass ich ihn abgeschickt hatte.・
„
Das Gefühl, überall beobachtet zu werden, waren wir los. Dafür fielen wir durch die Zwischenprüfung.
„
Sechs Wochen später legte man uns den Abbruch der Ausbildung nahe. Eine Personalsachbearbeiterin erklärte mit gekünstelter Freundlichkeit, dass eine erneute Bewerbung nach Erwerb der Hochschulreife durchaus wohlwollend geprüft würde. Eine echt gehässige Spitze.
„
Wenigstens das Eberswalder Helmholtz-Gymnasium wollte es noch einmal mit uns probieren. Fast hätte ich aufgejuchzt: Die Personaltussi würde Augen machen, wenn wir tatsächlich ein paar Monate später mit der geforderten Hochschulreife vor ihr ständen.
Im Nachhinein kam mir die Zeit in dem Wüstencamp Woche um Woche spannender vor. Wenn wir doch wieder zurück könnten! Ich verfolgte alles über Namibia, was mir in die Hände fiel. Ich las sogar Fachliteratur. Alles, was im Internet unter dem Stichwort Kalahari erschien. Selbst so kuriose Meldungen wie die, dass Metalle, die selten und wertvoll waren wie Gold, Platin oder Wolfram, von dort in erheblichen Mengen und gleich in handliche Barren aufbereitet auf dem Weltmarkt geworfen würden. Auf einen Zusammenhang mit der Oase kam ich anfangs nicht. Obwohl ・c komisch fand ich es schon.
Dann entdeckte ich in einem Text, den ich fast schon gelöscht hatte, das Wort „・c Herbst Mining Incorporation ・c・ Ich zeigte ihn Jule. „Wolln wir wetten? Das hängt mit dem Kristall zusammen. Da gab es keine Grubengesellschaft. Oder haben wir da unten irgendetwas von Bergbau oder so gehört? Nein. Geologische Forschungen in der Nähe der Oase? Absolut Fehlanzeige. Alles, was da ablief, drehte sich um die Sikroben und die Kristalle. Mit Barren hatte Petra Herbst nie was am Hut. Was weiß ich, wie lange es dauert, ein Metall zu gewinnen und aufzubereiten. Also bestimmt nicht nur ein paar Wochen. Da ist was Fremdes am Werk. Und das einzige Fremde, was mir da sofort einfällt, sind die Kristalle. Ich weiß zwar nicht, wie, aber was Besseres gibt・Ls nicht. Und wir sitzen hier und können nichts machen.・
Die Angst in Jules Augen! Ob ich wohl wieder so eine Gitarrentour ausbrütete. Dabei hatte ich mich doch verändert! Manchmal kam ich mir richtig alt vor.
Schließlich tippte Jule genau auf die offene Wunde. „Was willst du denn machen und wofür oder wogegen? Nach Afrika können wir nicht einfach so laufen.・
Widerwillig gab ich es zu. „Das weiß ich ja auch noch nicht. Aber es ist zum Kotzen: Da unten ist was los und hier nicht.・ Verrückt: Es beruhigte mich. Den Ton kannte ich an mir, ganz neu war ich also nicht. Nein, ich war noch ich selbst.
Nicht jedem eine Kugel ・c
F
„
Jens schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Nun mal ganz langsam. Was willst du denn damit sagen? Hast du plötzlich was gegen unsre Petra? Außerdem habe ich wirklich noch nicht alle Kugeln gefunden. Zumindest Lisas ist im Augenblick nicht erreichbar. Die liegt da, wo im früheren Friedrichshain mal eine Häuserwand gewesen ist, unter einer meterdicken Silitdecke.・
„
Sonja reichte Jens mehrere Blätter. Es waren Computerausdrucke einer englischsprachigen Website. Die behauptete, dass eine „Herbst Mining Incorporation・ in phänomenaler Menge und Qualität reines Plutonium, Germanium, Wolfram, Kobalt und Bismut aus Afrika auf dem Markt anbiete und dass als Folge dessen bald „atomare Sprengkörper für den Hausgebrauch unkontrolliert durch die Welt vagabundieren werden・.
„
„
Jens sah zu Janine herüber. Die warf ihm missbilligende Blicke zu. Offenbar begriff sie nicht, warum er sich nicht sofort über Petra aufregte. „Ja, gut, also ist Petra für euch jetzt das Monster aus Afrika?・
„
Ich holte Luft. Das war ja wohl die Aufforderung an mich, meine Vermutungen aus der Oasenzeit zu schildern. Aber Sonja gab mir ein Zeichen abzuwarten.
„
Jens lächelte nicht mehr. Im Gegenteil wurde er richtig ungehalten. „Ich nehme an, davon werden sie noch ausgiebiger erzählen. Bloß was hat das hiermit zu tun?・ Er wedelte mit dem Papier.
Sonja ließ sich nicht verunsichern. Sie sprach weiter, als hätte sie den Einwand nicht gehört. „Die Sache mit der Überwachung klammere ich mal aus. Die Mädchen vermuten, dass da unten daran geforscht wird, Menschen zu steuern. Das wäre auch mir zu gewagt. Aber dann habe ich gerechnet. Die Zeit hätte gereicht. Inzwischen hätte sich der zweite Kristall entfalten können. Was ist, wenn er nicht verschwunden ist, sondern Petras Leute ihn gebändigt haben? Könnte es nicht sein, dass er mit dem Auftauchen dieser hochkonzentrierten Stoffe zu tun hat? Und was ist, wenn auch der erste Kristall gar nicht verschwunden war ・ oder nur für die naiven Wissenschaftler in diesem Camp? Wir wissen doch gar nicht, auf welchen Gebieten Petra alles forscht.・
Jens sah uns abwechselnd an, als erwartete er, dass wir uns für unseren Verdacht schämten. Dabei kaute ich noch daran, dass Sonja gerade meine ganzen Ängste aus Namibia als nicht erwähnenswert weg gewischt hatte. „Wie hat sich Petra denn euch gegenüber verhalten? Hat sie euch rausgeekelt oder hat sie euch verteidigt? Und du, Sonja? Du hast Petra die Mädchen doch ans Herz gelegt ・ bereust du das jetzt? Warum billigst du ihr nicht zu, dass sie sich einfach nur für die Mädchen verantwortlich gefühlt hat?・ Jens・L Stimme klang allerdings viel weniger entschieden als seine Worte.
„
„…
„
„
Inzwischen fragte ich mich, warum uns die Zarge überhaupt mitgenommen hatte. Damit ihr ehemaliger Mitschüler sich an meiner afrikanischen Restbräune erfreute, ja wohl nicht. Aber warum ließ sie uns nicht zu Wort kommen?
„
„
„
„
Jetzt ließ Jens Sonja nicht zu Wort kommen. „Selbst, wenn du Recht hättest, wie gesagt, selbst wenn・, sagte er jedes Wort in die Länge ziehend, „es schadet doch keinem, wenn nun Petra mit zu den Reichen gehört. Wenn wir nun einmal in einer Welt leben, wo Geld über alles entscheidet, warum soll nicht unsere Petra dafür belohnt werden, dass sie die richtige Idee gehabt hat? Sie ist doch nicht schlechter als andere! Immer noch besser, als die, die sich was auf ererbten Reichtum einbilden. Petra hat wenigstens was geleistet. Lass sie doch.・
Janine sprach einfach in eine kleine Pause hinein. „Diese Ätzer schienen zuerst die Katastrophe schlechthin zu sein. Die tollen Stoffe, die sie draus gemacht haben, schienen danach ein Segen für die Menschheit zu sein. Inzwischen jagen Tausende Polizisten Leute, die selber solche tollen Stoffen machen wollen und geforscht wird daran, wie das Zeug künstlich altert, damit sie weiter davon verkaufen können. Ist das nicht pervers? Vielleicht haben wir den Moment verpasst, wo Petra von der netten Forscherin zur eiskalten Geschäftemacherin geworden ist?・
Plötzlich hellte sich der Ausdruck in Jens・L Gesicht auf. „Also, wenn ich euch so angucke・, sagte er, und dabei sah er uns allen nacheinander ins Gesicht, „dann wolltet ihr mich hier davon überzeugen, dass wir was gegen Petra machen sollten. Ihr dachtet wohl, ich mach da nicht mit? Ich habe die ganze Zeit selbst überlegt, ob wir uns nicht ein Kuckucksei ins Nest geholt haben. Da wusste ich noch gar nichts von dem Metallzeug da. Aber eins wusste ich schon: Wer Petra zum Gegner hat, der hat einen verdammt starken Gegner. Ich dachte immer, wir haben Probleme genug. Aber wenn ihr meint ・c・
Sonja lächelte. „Wenigstens sollten wir es versuchen. Wir verfügen über zwei Kugeln. Das ist schon mal ein Anfang. Wie Petra ihre untersucht hat, wissen wir. Das werden wir mit unseren auch tun. Wir werden wohl noch an einen Röntgenapparat herankommen! Ob Petra ihre eigene Kugel wieder findet, ist offen. Nimm einmal an, wir haben Lisas schwere zuerst und untersuchen sie, dann hätten wir sogar einen Vorsprung. Sollten sich die Kräfte in den Kugeln als ungefährlich herausstellen, kann Petra damit machen, was sie will.・
Jens deutete auf Jule und mich. ・Nun mal nicht so eilig. Und die beiden da?・
„
„
Klasse! Hatte Sonja das vorgehabt? Sie hatte es uns nicht verraten. Ich sah Jens geradeheraus ins Gesicht. Seine Worte hatten ja nur so gestrotzt von Ironie. „Was gibt es da zu lachen? Sie haben zwar irgendwie Recht. Aber wenn keiner anfängt, dann kann diese Petra Herbst machen, was sie will. Und plötzlich ist es zu spät.・ Wieder sah Jens zu mir. So ・c
„
Ich richtete mich auf. „Marie!・
„
In diesem Moment stürmten Leonie und Sina zur Tür herein. „Warum kommt denn keiner mit nach draußen?・
Auf der Rückfahrt fiel mir diese Szene wieder ein. „Es ist bestimmt Unsinn, aber diese Klonies sind in das Gespräch hereingeplatzt, als hätten sie sich den störendsten Zeitpunkt ausgesucht ・c・
„
„
Ich hätte mir auf die Zunge beißen mögen. Sonja am Steuer hatte doch auch solche Klonies ・c
„
Erstmal eine Weile nichts. Dann antwortete sie: „Als wir das alles vereinbart hatten, da hielten wir uns für Partner, Freunde oder so. Petra hat zweifellos die besten Voraussetzungen, um die Kugeln zu erforschen. So lange sie uns traut, wird sie uns nicht bekämpfen. Das sollten wir uns erhalten.・
„
„
Am folgenden Wochenende hatten die Marders ihren lang geplanten Besuch von Petra. Bei dieser Gelegenheit nahm die Sonjas Kugel in Empfang. Soweit ich es rekonstruieren konnte, kam kein Gespräch über die Kalahari-Ereignisse zustande.
Jens stammelte von „・c Hektik im Amt ・c・ und „Zu nichts kommt man ・c・ ・ jedenfalls habe er sich noch nicht erfolgreich um den Verbleib der restlichen Kugeln kümmern können. Janine rettete ihn dann aus der Verlegenheit, indem sie ihn in die Küche rief.
Sobald Petra weg war, rief Jens uns an; wir durften unseren Dorfspaziergang beenden. Es war auch höchste Zeit. Ich konnte es kaum aushalten, noch weitere wertvolle Forschungszeit zu vergammeln. Endlich konnten wir loslegen: Hinten im Schuppen aufräumen, aufschreiben, was wir für die Eröffnung unseres Labors brauchen könnten und so. Hoffentlich begegneten sich Jens・L und Petras Klonies nicht so oft. Irgendwann würden sie sich verplappern.
Die Rutengänger
B
Und nun? Nun wollte ich mich zur Disziplin zwingen. Nach außen hin sollte ja alles normal ablaufen. Je weniger unsere Labor-Aktivitäten auffielen, umso besser. Und bei einer Schülerin, die immer brav Hausaufgaben gemacht hat, erwartet niemand allzu ausschweifende Neben-Tätigkeiten.
Das letzte Klingeln im Schulhaus war trotzdem wie der Ruf zum Freigang einer zu Unrecht Verurteilten. Mein Vater hatte mich aufgegeben. Er fragte zwar, wenn wir uns gelegentlich sahen, wie es mir denn so gehe, gab sich aber mit ausweichenden Antworten zufrieden. Einmal ermahnte er mich, ja nie Pille und Kondome zu vergessen ・ auf die Jungen sei kein Verlass und lieber doppelt verhüten als gar nicht. Ein anderer Grund für meinen Zustand fiel ihm nicht ein, und ich ließ ihn natürlich in seinem Glauben.
Das Haus der Marders empfand ich mehr und mehr als mein Zuhause. Die Untersuchungen im Labor machten ungeheuren Spaß. Hier traf ich eigene fachliche Entscheidungen. Was sollte ich tun? Die anderen erwarteten das von mir. Mitunter saß ich noch nach Mitternacht am Computer, um Informationen zu besorgen. Wir hatten die Kugeln geröntgt, sie zertrümmert, die beiden blanken Kristalle wieder verpackt und die sprudelnden Sikrobentropfen in einem eigens dafür hergerichteten Bottich eingefangen. Die Sikroben ließen sich füttern und reagierten im Laufe der Zeit auf einen festen Fütterungsrhythmus. Andersherum dienten sie wiederum den Kristallen als Futter. „Als ob sie dazu da sind・, hatte ich einmal in die Runde geworfen, und mich dabei so was von beschwipst gefühlt, dass ich mir sofort ähnliche Ideen wünschte. Das war nicht irgendein gutes Gefühl. Das war ・c Hatten wir nicht in der Kalahari auch schon geistige Höhenflüge vollbracht? Wir mussten nur richtig anfangen.
Heimlich suchte ich mir eine für mein nächstes Projekt geeignete Astgabel, also eine, die wie ein großes Ypsilon mit langem Stiel aussah. Dort, wo die beiden dünneren Äste vom dicken abzweigten, befestigte ich eine Schachtel für einen unserer Kristalle. Das war zwar ein sehr einfaches Suchgerät, unsere Wünschelrute, aber funktionieren konnte es. Die schwere Kugel unten sollte sie nach unten ziehen, sobald die Rute genau über ihr wäre. Zumindest, wenn Jens・L Beschreibung der magnetischen Anziehung zutraf. Allerdings ・c hatte er auch von den mit wachsender Entfernung schnell schrumpfenden Wirkung erzählt. Ich hoffte trotzdem, dass meine Konstruktion empfindlich genug war, auch noch auf kleine Kräfte zu reagieren.
Jens war begeistert von meiner Erfindung. Mit ihr hatte er eine echte Chance, die schwere Kugel aufzustöbern. Schon bald hatte er die ersten Rutengänge über den silizierten Flächen Berlin-Friedrichshains hinter sich. Er wechselte sich mit den zuverlässigsten und verschwiegensten Mitarbeitern ab, doch lange konnte die Sache nicht geheim bleiben. Um ungestört zu bleiben, musste eine weite Fläche abgesperrt werden. Und das mit dem Risiko, dass die Wünschelrute vielleicht doch nicht anschlug. Durch den gehärteten Brei war der Untergrund nicht zu erkennen. Wenn diese Schicht die Strahlen der Kristalle abschirmte?
Abends hatte Jens immer viel zu erzählen. „ Du kannst zwar genau berechnen, wo früher das Ostkreuz gewesen ist ・ wenigstens die Längen- und Breitengrade haben sich nicht geändert ・ ansonsten ist aber alles gleichmäßig öde. Ich hab Lisas Angaben so aufbereitet, dass die Kugel innerhalb eines Flächenquadrats von etwa einem halben Hektar gefunden werden müsste, wenn sie nicht jemand vor der Katastrophe weggeschleppt hat.
Wir haben verbreiten lassen, dass sich unter dem Silitpanzer eine Bombe befindet. Die sollen meine Männer mit dem Suchgerät orten und dann sprengen ...・
Eigentlich eine starke Idee. Mit jeder Fahrt hoffte ich, Jens würde uns die Kugel präsentieren. Aber nichts geschah. Im Gegenteil: „・cDreißig Felder von jeweils zehn mal zehn Quadratmetern haben wir schon gecheckt. Da taucht diese Frau auf. Plötzlich steht sie am Rand des nächsten Suchquadrats und weist sich als Reporterin des Kuriers aus. Das hatte uns noch gefehlt・, jammerte Jens. „Da bekommt Petra die Nachricht über unseren Fund notfalls aus der Zeitung. Wir wissen noch nicht einmal, ob die Kugel überhaupt dort liegt, da haben wir schon die Presse auf dem Hals. Am Ende wollen die noch die Sprengung der angeblichen Bombe filmen. Das könnte uns unseren geheimen Vorsprung kosten. Uns muss einfach etwas einfallen, dass Petra weiter nichts ahnt und wir trotzdem die schwere Kugel in die Hände bekommen.・
„
„
Wollte Jens mich testen? Einem Kriminalisten musste die Sache verdächtig vorkommen. Aber bevor ich etwas sagen konnte, schaltete sich Sonja ein: „Bist du schon auf die Idee gekommen, dass der Falkmann Petras Maulwurf in deinen Reihen sein könnte? Sie wird sich bestimmt doppelt absichern. Die vertraut dir nicht mehr.・
„
Bei so viel Optimismus verkniff ich mir lieber alle Kommentare.
Sie hatten Glück. Die Wünschelrute schlug wirklich an. Dann begannen die Bohrarbeiten. Meter um Meter fraß sich Ernst, ihr Bohrroboter, in die an eine Teerstraße erinnernde graubraune Masse. Das Gerät häufte automatisch die zerkleinerten Teile neben dem Loch an. Es besaß auch einen Greifer für Einzelstücke. Zwei Tage später rief Oberkommissar Granzner Jens an, er habe eine Kugel gefunden. Die sei sehr schwer und sehe ungefähr so aus, wie sie Jens beschrieben habe. Er habe sich gründlich umgesehen. Sein Fund sei niemandem aufgefallen und er habe die Ersatzkugel ins Loch geworfen. In der Mittagspause würde er das echte Objekt in die Asservatenkammer abtransportieren. Er habe die Kugel zu diesem Zweck im Kofferraum seines E-Cars verstaut. Für ihn sei sowieso mittags Dienstschluss. Da fiele nicht auf, wenn er wegfahre. Die Bombe sei auch schon vorbereitet. Er würde den Ernst raufholen und dann Falkmann am Nachmittag die Sprengung durchführen lassen.
Jens beendete seine Inspektionsrunde. Er versuchte, keine Nervosität zu zeigen. Er wollte eine halbe Stunde nach Granzner an der Asservatenkammer auftauchen und die unscheinbar wirkende Kugel für sich beanspruchen.
„
Betont locker betrat er die Wache. Suchend sah er sich im Vorraum um. „・c Hat er nun doch nicht gewartet? Na, egal, er hat mir ja den Chip für den Klumpen vorsorglich vorher gegeben.・
„
„
Der Wachtmeister sah seinen Chef unsicher an. Dann brüllte er nach hinten: „Hat einer den Granzie gesehen?・
„
„
Jens zuckte mühsam beherrscht mit den Achseln, lief wieder hinaus und rief den anderen zu: „Wenn ihr ihn seht, er soll sich sofort bei mir melden! Sagt ihm das!・ Auf dem Heimweg war es gut, dass sein Wagen automatisch fuhr. Warum war Granzner nicht zu erreichen. Was war nur passiert? Jens hörte kaum auf die Begrüßung seiner Zwillinge.
Zwei Stunden später meldete sich Granzner. Jemand habe ihn unmittelbar nach dem Aussteigen vor der Wache überfallen. Über das Weitere könne er nichts sagen. Sein Handy und die Kugel im Kofferraum seien verschwunden. Das weiterzuerzählen wäre sowohl peinlich als auch albern gewesen: Polizist wird vor seiner Wache überfallen. Beute: ein Handy und ein Stein! Die Anekdote hätte sich garantiert herumgesprochen. Da hätte er auch gleich über die Medien verbreiten lassen können, was es Besonderes mit diesem Stein auf sich hatte! Ihnen blieb nur übrig, eine Weile weiterzumachen wie bisher.
Jemand
Lichtschranken um eine falsche Idylle
W
Wir aber umringten ihn mit Gesichtern, die unbegreiflich wenig Enttäuschung zeigten. Wenn es nicht so unsinnig gewesen wäre, hätte er gedacht, die Klonies müssten mit aller Kraft ein vergnügtes Losprusten unterdrücken. Ich sagte leichthin: „Mach dir nichts draus! Wir schaffen・Ls trotzdem. Bestimmt! Du willst uns doch nicht die Freude verderben, oder?・
Auf Jens・L Gesicht war die Verwirrung deutlich zu lesen: Was war nur mit uns los? Janine und Sonja hatten ihn gerade überzeugt, dass die Chancen für ihr Unternehmen jetzt zu gering wären und die Kinder nicht darunter leiden sollten. So hatte Jens den schwierigen Part übernommen, uns schonend beizubringen, dass wir doch nichts völlig Unmögliches treiben sollten.
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Jens schüttelte mit dem Kopf: „Einmal angenommen, wir hätten noch eine Chance. Vergessen wir einfach die schwere Kugel. Irgendwann kommen die Insekten. Wie bei euren beiden großen Kristallen in Afrika. Dann bekommen wir zumindest Probleme mit den Nachbarn. Wenn sich hier Milliarden Insekten versammeln, drehen die durch. Selbst, wenn wir das ohne Schaden überstehen und nicht gelyncht werden und zu deinen Goldbarren kommen. Wir können doch nichts damit anfangen! Oder willst du dann mit so einem Klumpen an die Börse gehen, guckt mal, ich kann auch? Petra setzt sich doch durch.・
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Jens winkte ab. Warum waren wir nur so unbelehrbar?
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Jens hob die Hände, als wollte er zu einer großen Rede ansetzen. Begriff denn niemand die Aussichtslosigkeit ・c? War es nicht besser, ・c? Aber wir hatten offenbar alle so viel Spaß. Durfte er uns den verleiden? Wo es doch sein Labor war? Wir würden bestimmt selbst darauf kommen. Er ließ die Arme sinken, schüttelte wortlos den Kopf und kehrte zurück zu den beiden Frauen im Haus.
Sonja übernachtete immer häufiger im Gästezimmer und fuhr am folgenden Morgen direkt zur Schule. Für kalte Tage hatten die Marders für Sonjas Klonies ein weiteres Doppelstockbett ins Kinderzimmer gestellt. Am liebsten schliefen Hanna und Nanette aber zusammen mit Sina und Leonie draußen im Zelt.
An einem Donnerstagnachmittag hatte ich das unerklärliche Gefühl, es würde etwas Wichtiges ohne mich besprochen. Einen Vorteil hatte der Garten. Nadine und Jens hatten ihn dermaßen verwildern lassen, dass er wie geschaffen war für Versteckspiele und heimliches Anschleichen.
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Jens antwortete nicht. Vielleicht hatte er auch mit einer Geste geantwortet. Ich hatte mich unter einen der Büsche gedrückt und sah das nicht.
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Ich hatte jetzt sowohl Janine als auch Jens und Sonja im Blick. Wenn sie nicht genau auf meinen Busch starrten, konnten sie mich aber umgekehrt nicht bemerken.
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Janine lachte. „Hmm, wie ungerufene Geister platzen sie in unsere Gesprächsrunden und nachher verschwinden sie wieder. Passt auf: Vielleicht stehen sie schon bereit.・ Ich drückte schnell meinen Kopf nach unten. Wahrscheinlich schweifte Janines Blick über ihren geliebten Urwald.
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Ich nahm den Kopf wieder hoch. Janine sah Jens gerade vorwurfsvoll an.
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Ich erinnerte mich sofort an den Umschlag. Jens hatte ihn so auffällig zu verbergen gesucht, dass ich mir das Nachschnüffeln nicht hatte verkneifen können. Ich wusste, dass er ein wesentliches Detail verschwieg. Das genetische Material der Kinder wies keine Ähnlichkeiten zu seinem oder Janines auf, hatte auch dort gestanden, sie waren in diesem Sinn beide nicht die Eltern der Zwillinge. Aber Janine hakte nicht nach.
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Mit dieser Festlegung schienen alle zufrieden. Ich hatte genug gehört.
Insgesamt hatte sich auch Jule in der Schule verbessert. Ich sowieso. Bei meinen Noten davor keine Hürde. Wir richteten uns in einer Bodenkammer bei Marders ein. Dort fühlten wir uns zufrieden und ausgeglichen wie damals in der Oase.
Janine, Jens und Sonja gingen uns auf den Leim. Wie zuvor abgesprochen schlichen sie sich abwechselnd zum Gartenhaus. Sie bekamen beeindruckend Starkes zu sehen, was alle Spitzenleistungen scheinbar erklärte: Wir beiden Großen beaufsichtigten die vier jüngeren Mädchen bei irgendwelchen Aufgaben. Es ging alles sehr leise zu. Alle lernten begeistert. Da bemühten sich die Erwachsenen, sich möglichst geräuschlos zum Haus zurückzuziehen. Sie kamen noch einige Male und abwechselnd. Mitunter konnte ich mir kaum das Lachen verkneifen, wenn ich mir vorstellte, wie unsere filmreife Nachhilfeschule wirken mochte. Eigentlich unglaubwürdig überzogen. Trotzdem zweifelte niemand. Wie drückte Sonja es aus: „Also wisst ihr, ich bin bestimmt nicht beruhigt. Aber solange der unnormale Zustand unserer Kinder sich nur so auswirkt, kann ich damit leben.・ Das, was sie aus der Schule hörte, passte zu dem gerade Gesehenen. Weshalb hätte sie misstrauisch werden sollen?
Was sie alle nicht bemerkt hatten, waren die Lichtschranken. Für einen Ahnungslosen war es unmöglich, nicht irgendwo das gut versteckte Alarmsystem auszulösen. So blieb immer genug Zeit, um die gewünschte Lernidylle zu schaffen. Die wissenschaftliche Arbeit, mit der wir uns in Wirklichkeit beschäftigten, war den Klonies ja ausdrücklich verboten worden.
Sina hatte so lange gebettelt, mit der komischen Schippe einen der Kristalle füttern zu dürfen, bis ich es ihr erlaubt hatte. War das aufregend! Als ob sie Piranhas einem Riesenmonster zum Fraß vorwarf. Auch Leonie konnte nicht genug von diesem Spektakel bekommen ・ vor allem, da sie mit dem Gefährlichsten hantierten, was es auf der Erde gab. Das hatte ich ihnen eigentlich zur Abschreckung erklärt, aber erreicht hatte ich das Gegenteil. Wenn sie eine Silitkelle mit Sikroben über einem der Kristalle ausgoss, blähte der sich kurz wie eine lebende Seifenblase auf; glitzerte dabei regenbogenartig, und es zischte und schäumte, bis alle Tropfen verschwunden waren. Der Kristall leuchtete noch eine knappe halbe Minute intensiv blau. Danach sah er aus wie vorher. Auf so was hätte keines der Klonies mehr verzichtet. Und erst die Sikroben! In den beiden Trögen verschwanden die Hausabfälle nach Zischen und Glitzerformen fast spurlos, ja, wir konnten anschleppen und in ihren Behälter werfen, was immer wir wollten ・ es wurde verschlungen.
Ich hatte den Klonies erklärt, dass der Kristall sich irgendwann verwandeln würde. Vielleicht hätten sie sonst das Interesse verloren. Schließlich gab es außer der regelmäßigen Fütterung nichts zu sehen. Und die war mehrmals täglich gleich. Höchstens, dass sie ein paar Leckerbissen für die Sikroben heimlich heranschafften. Aber so ・c
Jens und die anderen im Haus waren überzeugt, dass mich nur Julia bei den Fütterungen unterstützte. Sonst wäre Jens wohl nicht so ruhig in sein neues provisorisches Revier am Rand Berlins gefahren.
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Jule sah mich unsicher an. „So. Ich soll dir also helfen? Ich kann dir höchstens sagen, was du mir gesagt hättest: Es ist doch noch nichts passiert. Und verhindern können wir sowieso nichts. Wir wissen ja nicht, woher was kommt .・c・
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Für ein paar Tage sprachen wir nicht mehr davon. Der Kristall wuchs so unmerklich, dass ich wehmütig an das riesige Exemplar in der Wüste dachte. Ich fühlte aber seine anregende Wirkung. So wagte ich auf der Bank neben dem Gartenhäuschen, allein mit Jens, einen Vorstoß. Allerdings hatte ich dabei das Gefühl, als drängte mich irgendetwas Fremdes zum Reden.
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Ich war lauter geworden. Irgendwie wusste ich nicht mehr, ob ich nun nur zu Jens redete, ihm eine Frage zu beantworten versuchte, die er mir sicher nie stellen würde, oder ob ich nach Rechtfertigung suchte. Schließlich wurde ich die Idee nicht wieder los, ich wirkte bei etwas mit, durch das Janine und Jens ihre Kinder verlieren würden. Besänftigend legte Jens mir den Arm auf die Schultern. Ich lehnte mich an ihn. Fragend sah ich ihm ins Gesicht. Da zog er verlegen seinen Arm zurück.
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Zugegeben. Aus meinem Mund klang das Wort Harmonie irgendwie befremdlich. Jens schwieg noch immer. Ich verabschiedete mich mit einem angedeuteten Winken auf mein Zimmer.
Zauberlehrlinge
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Sina rief: „Habt ihr das auch gehört? Es hat Plobb gemacht.・ Bevor ihr jemand antworten konnte, schnellte ein weiterer kleiner Punkt aus der gespannten Bauchdecke. Die nächsten folgten in immer kürzeren Abständen. Während die Haut langsam schlaff wurde, landeten Tausende solcher beweglichen Punkte um uns herum.
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Glücklicherweise erinnerte sich Jule. Zuvor hatte noch niemand eine Lupe benutzt. Schließlich besaßen wir ein mittelgroßes Mikroskop.
In den folgenden zwei Minuten drängelten die vier Klonies Julia und mich immer wieder zur Seite. Leonie hatte die Lupe als erste ordentlich über mehrere Punkte gehalten. Begeistert brüllte sie: „Sind die aber niedlich!・
Sina rief: „Lass mich auch mal! ・cTatsächlich! Sieht aus wie ganz kleine Schildkröten!・
So kleine Schildkröten gibt es wohl gar nicht. Die Körper waren wenig mehr als einen Millimeter groß, wie abgeplattete Halbkugeln mit kaum erkennbaren, sich träge bewegenden Beinchen daran. Was auch immer das war oder werden würde ・c der Eindruck, kleine Tierchen vor sich zu haben, sozusagen ihre Geburt erlebt zu haben, beherrschte uns alle.
Endlich hatte ich mich gefasst. „Wir müssen sie einfangen! Aber wie?・ Panisch sahen wir uns im Raum um. Pipetten, ja, die fanden wir. Nur keine verschließbaren Behälter, Bottiche, Gläser oder Kisten. Womit sollten wir denn diese Mikroschildkröten einsammeln? „Die fegen wir einfach zusammen.・
Kaum hatte ich das gesagt, rief Leo „Ich hol schon!・ und draußen war sie. Wir anderen standen hilflos herum. Die winzigen Wesen hatten sich inzwischen im ganzen Labor ausgebreitet. Das Zusammenfegen würde gar nicht so leicht werden, dachte ich noch, da ...
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Zumindest für eine Sekunde unterbrachen die anderen ihre Hampelei. Das reichte mir. Ich riss die Tür auf. Gerade als die anderen aus dem Labor stürmen wollten, kam Leonie mit einem Handfeger, einer Schippe und zwei großen Wassereimern mit Deckel.
Ich setzte mich durch. Von draußen kämpften wir nun gegen die Schildkrötenplage an. Im Laufe des folgenden Kampfes fiel zwar auch Leonie der letzten Fetzen vom Körper, aber das Labor eroberten wir zurück.
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Bei mir konnte das Jucken eigentlich nur Einbildung sein. Mich hatten die kleinen Krabbler überhaut nicht angerührt. Als hätte ich unangenehmen Körpergeruch oder so. Hanna und Nanette, Sonjas Klonies, hatten wenigstens noch Unterwäsche zum Ausziehen. Die anderen konnten gleich ihren Tanz unter dem lauwarmen Regen der Gartendusche beginnen.
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Mein Blick überflog unseren Laborschuppen. Er sah beeindruckend sauber und aufgeräumt aus. Die Deckel der beiden Eimer waren geschlossen. Darin wussten wir ein Gemisch aus dem Mehlstaub, den kleinen Krabblern und anderem Dreck. Von den Minischildkröten war im Raum keine mehr zu sehen. Ich zweifelte aber nicht daran, dass viele von ihnen in den Garten entwischt waren. Auch im Labor hatten sich bestimmt Ausreißer in Ritzen und Ecken verborgen. „・c Die nehmen wir uns später vor.・ Ich schüttelte ein paar Tropfen ab. „Erstmal bringen wir uns wieder in Ordnung.・
Im Haus zogen wir uns frisch an. Welch Glück, dass wir dabei keinem begegneten.
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Als wir zum Labor zurückkamen, fiel uns neben der Tür ein frisches Mäuseloch auf. Ich spähte durch eines der Fenster. Drinnen sah alles aus wie vorher. Nein. Die beiden Eimer waren umgekippt. Und wirklich: Alle Schildkröten waren weg.
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Die zweite Berliner PlageP
Jeder Baum musste neu angepflanzt werden. Wer in Berlin mit Immobilien spekulieren wollte, konnte astronomische Gewinne erzielen ・ er musste nur einen langen Atem haben. Petra hatte. Der erste Rückschlag traf sie schließlich völlig unvorbereitet. Was hatte sie nicht alles unternommen, um die Königskugel, wie sie Lisas schweres Stück im Stillen getauft hatte, in die Hände zu bekommen. Sie hatte auf Jens nicht nur die Reporterin und den Maulwurf gehetzt, sie ließ auch seine Kommunikation überwachen. So fing sie diesen Granzner im letzten Moment ab. Die Kugel landete ganz unspektakulär im Herbst-Labor, aber die erhoffte Sensation blieb aus. Natürlich legte sie sofort den fremden Kern frei. Aber was fand sie? Ein mit Magneteisenstein überzogenes Bleistück. Als ob damals eine irdische Kugel zwischen die fremdartigen geraten wäre. Das war aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich Lisas Kugel. Wie und wann hätte ihr denn jemand ein Kuckucksei ins Nest legen sollen? Die Kugel zog wie zu Kinderzeiten den noch nicht modifizierten Kristall an wie ein Magnet. Außerdem meldeten ihre Beobachter Zeichen von Depressionen bei Jens ・ genau so, wie es zu erwarten war bei einem, der um die Frucht eines außergewöhnlichen Coups betrogen worden war.
Nach der Alibisprengung ließ er alle Aktivitäten an den Sucharealen einschlafen, als hoffte er nicht mehr, etwas zu finden. Für die Sache mit der schweren Kugel gab es nur eine Erklärung: Als Kinder waren sie einem Irrtum aufgesessen. Die eine schwere hatte nur zufällig den leichten anderen Kugeln zum Verwechseln ähnlich gesehen ・ wobei ... so genau hatten sie sie nie miteinander verglichen. Mit anderen Worten: Einen wesentlichen Teil der Sensationen, die sich Petra von der Kombination der verschiedenen Kugelkerne erhofft hatte, war demnach im Reich der Phantasie entschwunden.
Ausgerechnet ein Besuch in ihrem Geburtshaus brachte dann den Umschwung, den Erfolg, auf den sie schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
Ihre traditionellen Familienfeiern ließ sich Petra Herbst auch jetzt nicht nehmen. Sie fuhr ohne offizielle Begleitung nach Hause. Gemütlich beim Köm saßen sie schließlich zusammen: ihre eigene Großfamilie und Klauses von nebenan.
Klauses・L Barry war sieben Jahre älter als sie. Mit zehn hatte sie ihn immer damit aufgezogen, dass er den Namen eines Hüttenhundes trug. „・c Später habe ich mich hoffnungslos in dich verliebt. Die ganze Zeit habe ich auf ein Zeichen von dir gehofft. Du warst immer so nett zu mir. Da habe ich gedacht, wir werden einmal heiraten. Aber natürlich habe ich mir nicht getraut, dich zu fragen. Schade. Jetzt ist es wohl zu spät. Du nimmst bestimmt nur einen Mann mit viel Geld oder besonderen Qualitäten・, erinnerte er sich.
Petra hatte höflich mitgelacht. Barry konnte einfach nicht aufhören. Er erzählte und erzählte, und eigentlich hörte sie gar nicht mehr richtig hin. Die meisten aus der Runde taten, als fänden sie seine faden Gags lustig. Immerhin brauchte Petra sich in diesem Kreis nicht zu benehmen wie eine Erfolgsfrau. Plötzlich horchte sie auf. Was erzählte der da? „・c Na, Kugelstoßen war nicht gerade meine Stärke, und das Ding sah richtig schwer aus. War es aber nicht. Eher wie ein Ball. Ich setz also so richtig an, so mit unters Kinn und mit Drehung und so und stoße. Wollte einmal nem Mädel imponiern. Und was passiert? Die Kugel fliegt weit über zwanzig Meter, schlägt aber nicht mit Rums auf, sondern prallt ab wie ein Gummiball. Deshalb war dann aber Jenny zuerst da, hat sie aufgehoben und ich war wieder nicht der Supermann.・
Vorsichtig fragte Petra nach. „Wo hattest du das Ding denn her?・
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Petra vergewisserte sich: „Also wenn das erst drei Jahre her ist, dann gibt・Ls die also immer noch ...・
… „
Petra konnte sich kaum beherrschen. Doch nun musste sie Desinteresse heucheln und das Thema wechseln. Es war egal, worüber nun geredet wurde, sogar über das Berlin der kommenden Jahrhunderte - Hauptsache, die anderen in der Runde vergaßen, dass sie sich für diese Kugelstoßsache interessiert hatte.
Gleich am nächsten Morgen aber machte sie einen kleinen Spaziergang. An der angegebenen Stelle war dann doch nichts. Petra überlegte. Und sie hatte Glück. Maartens hatten als Begrenzung ihres Grundstücks ein ähnliches Steinbeet angelegt wie Jens. Es war einen Blick wert. Und siehe da ...„Bingo!・ Dort war eine auffällig glatte Kugel eingebaut. Auf die Entfernung hin identisch mit denen, die sie bisher untersucht hatte.
Inzwischen feuerten sich mehrere Hunde der Nachbarschaft gegenseitig an, die Fremde aus ihrem Revier zu vertreiben. Auf Maartens Grundstück selbst regte sich noch nichts.
Petras Finger scheuten vor der Klingel. Hier wäre ein ausgiebiger Klönsnack fällig, angefangen mit dem obligatorischen büscht du abä groß gewoorden. Und wie sollte sie ihr Interesse an der Kugel auf dem Steinbeet begründen?
Rundum zeigte sich kein Nachbar, den sie grüßen oder anderweitig zur Kenntnis nehmen musste. Vielleicht beobachtete sie jemand hinter einer Gardine?
Wenn schon! Für so ein unscheinbares Ding würde keiner die Polizei rufen, und in ein paar Stunden war sie sowieso weit weg. Petra stieg über den Zaun, packte die Kugel, flitzte ein Stück weiter zum nächsten Grundstück, sah sich um, ob sie jemand beobachtete ・c Nein. Gut gegangen. Zumindest bemerkte sie auch jetzt niemanden. Eigentlich konnte ihr nur ein Reporter gefährlich werden. Die reichste Frau der Welt klaut Steine vom Nachbargrundstück ・c Das wäre ・ zumindest mit Foto ・ schnell in allen Klatschspalten. Aber welcher Journalist verirrte sich schon auf Näswerder, vorbei an ihren verborgenen Sicherheitsleuten? Noch drei Schritte. Petra atmete auf; sie hatte es geschafft, ihre eigene Kugel zurück zu stehlen. Sie schmunzelte. Eigentlich schade, dass sie das niemandem erzählen konnte. Petra verstaute die Beute im E-Car, bevor sie zum Frühstück in die Küche hochging. Ihre Forschungen würden also weiter gehen. Mit Sicherheit würde sie vorhandene Wechselwirkungen finden. Petra konnte es kaum abwarten, zurück nach Berlin, eigentlich gleich in die Kalahari zu kommen.
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Petra konnte es nicht leiden, wenn ihre Eltern so gebannt vor der Bildwand hockten, noch dazu in der letzten Stunde des Besuchs. Außerdem würden die Zwillinge wieder eine Woche schimpfen, bei Omi und Opi hätten sie morgens fernsehen gedurft.
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Petra hatte abgeschaltet. „Ich muss sofort los. Die Biester werden mein Institut für Futter halten.・
Sie verabschiedete sich kurz. Mechanisch umarmte sie jeden, dann verstaute sie die Kinder hinten und drückte sich auf ihren Fahrersitz. Sie schaltete die automatische Steuerung ab, weil sich der Wagen sonst an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten hätte. Aber sie musste doch sofort an Ort und Stelle die Verteidigung ihres gerade erst errichteten Bauwerks leiten! Es war kaum zu erwarten, dass diese Wesen zwischen der toten Schicht und Bauwerken aus Silit unterschieden. Sollten doch die Bodyguards zusehen, wie sie unbemerkt ihren Schutz bewerkstelligten. Das war schließlich ihre Aufgabe. Zweimal wurden unterwegs Beträge von Petras Konto abgebucht. Auf dem Auszug mit der zweiten Abbuchung war vermerkt, dass ・c wenn innerhalb der nächsten 180 Tage eine weitere Geschwindigkeitsüberschreitung durch ihre Führerscheincodierung festgestellt werden sollte, die Zugangscodes aller ihrer registrierten Fahrzeuge automatisch abgeschaltet werden.
Per Videophon hatte sich Petra schon ein ungefähres Bild der Situation in ihrer Berliner Zentrale gemacht. Gefährlich und albern zugleich. Da knieten etwa siebenhundert überwiegend hoch qualifizierte Mitarbeiter um den Institutskomplex herum am Boden und sammelten schildkrötenartige Wesen per Hand in riesige Körbe. Andere versuchten, Gräben um das Gelände zu ziehen. Der Chef vom Dienst sendete mehrere Filmberichte.
Petra fragte zwischendurch ungeduldig. „Warum macht ihr sie nicht platt?・
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Petra achtete nicht auf den Verkehr. Wütend fauchte sie die jämmerliche Gestalt auf dem Bildschirm an: „Und was ist mit Laserkanonen, elektrischem Strom, Gift oder was weiß ich? Ihr müsst doch das Übergreifen der Viecher auf unsere Gebäude verhindern!・
Die Bildübertragung zeigte nun den Diensthabenden im Profil vor dem Hintergrund des Wolkenfingers. Auf seinem geröteten Gesicht standen Schweißtropfen. „Bestimmt gibt es Möglichkeiten. Wir suchen ja. Aber wir haben keine Zeit. Außerdem sind die Leute begeistert, dass dieser Silithorror so schnell zu Ende ist. Wenn wir einen Krieg gegen die Schildkröten beginnen, sind wir überall unten durch.・
Vielleicht wäre Petra besser bei ihren Eltern geblieben. Dann hätte sie wenigstens nicht hilflos zusehen müssen, wie der Wolkenfinger sich allmählich krümmte und dann, immer schneller werdend, nach vorn wegsackte. Aus den Nachrichten erfuhr sie, dass die normale Fraßfrontlinie der Testuden genannten Viecher jetzt bis an die frühere Stadtbezirksgrenze von Lichtenberg vorgedrungen war. Ihre Institutsreste waren die letzte Silitinsel inmitten fruchtbarer nackter Bodenkrume. Kilometerweit herrschte Eintönigkeit. Kein Baum, kein Strauch, nicht eine einzige Ruine. Eine seltsame dunkle Wüste. Zwar wirbelte der Wind gelegentlich hellgraues Mehl auf, das als kümmerlicher Rest der Silitschicht zurückgeblieben war, doch ansonsten war dieser Teil Berlins ein Acker, der nur auf Grubber wartete, damit gesät werden konnte.
Von allen Seiten näherten sich unterschiedlich große „Testuden・ den restlichen Silitgebäuden des Instituts. Verzweifelt jagten Petras Teams mit Körben, Händen und Keschern nach den Angreifern. Je weiter die eigentliche Front sich entfernte, umso unheimlicher wurde die Lage. Die hungrigen Wesen in der Umgebung der verbliebenen Institutsbaracken teilten sich offenbar, um leichter an ihr Futter zu kommen. Jedenfalls griffen immer mehr und kleinere Wesen an.
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Inzwischen fuhren vier Panzer ununterbrochen rund um das Institut Patrouille. Aber am folgenden Morgen waren die meisten wissenschaftlichen Mitarbeiter schon damit beschäftigt, kurzbeinige Silitfresser aus Löchern in den Mauern zu lesen.
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Drei Tage später starteten acht Charterjumbos vom provisorischen Großflughafen Berlin-Brandenburg International mit unterschiedlichsten Gerätschaften und einer noch unbearbeiteten Kugel in Richtung Windhuk Airport. Petra folgte mit ihrem engsten Stab. Sie hatte nach einigen Kilometern Entfernung einen imposanten Panoramablick auf das Gebiet Berlins. Im Wesentlichen bestand es aus grauen und braunen Flecken. Dort, wo die Spree ihr Bett wieder gefunden hatte, lockerte das erste Blau das Bild auf. Bald würde Grün die bestimmende Farbe sein. Es kämen neue Menschen, um hier ihre Geschäfte zu machen. Vielleicht gäbe es in zwanzig Jahren eine wieder aufgebaute, wenn auch wahrscheinlich kleinere Stadt. So lange kann ich nicht warten, dachte Petra. Sie umkrallte die Tasche mit ihrer unscheinbaren Kugel.
Die Verführung eines Helden
I
Halblaut las er: „Schon seit vielen Monaten hat Eberswalde über eine Viertelmillion Einwohner. Der weitaus größte Teil davon haust in provisorischen Baracken in Nordend. Schon vor den Berliner Sikroben schien die ganze Gegend verflucht. Wer aber heute im Reinhardt-Viertel wohnt, braucht sich um eine Anstellung bei den wenigen in der Region verbliebenen Instandhaltungsfirmen nicht zu bemühen. Die Häuser reißt nur deshalb niemand ab, weil das Geld kosten würde, das keiner ausgeben will. Allmählich hat sich der umliegende Wald durch die Zivilisationsdecke gedrängt. Ansonsten kommt nur hierher, wer nicht ahnt, dass er mit dieser Adresse sein weiteres Schicksal besiegelt oder wer sich selbst aufgegeben hat.
In Ostend, dort, wo die Bewohner seit langem ihre Häuschen als Anbauten zu ihren Kleingärten verstehen, suchen die Edelflüchtlinge ihr Unterkommen. Von hier aus ziehen die freien Makler der Silit-AG los, um die Neues・Berlin-Volksaktie als Anteil an dem bevorstehenden Bauboom in der künftigen Welthauptstadt anzupreisen. Hier patrouilliert die Eberswalder Bürgerwehr im Zweistundenrhythmus durch die Gassen und hier befinden sich vorübergehend die öffentlichen Ämter und Einrichtungen der Hauptstadt und einige Berliner Polizeiwachen. Die Polizisten haben sehr weite Wege zu ihren eigentlichen Einsatzorten. Aber natürlich gibt es hier wie dort wenig Kriminalität.
In den zurückliegenden zwei Wochen haben die Polizisten allerdings an einem der seltsamsten Einsätze des Jahrtausends mitgewirkt: Zusammen mit Feuerwehrleuten und Hunderten Freiwilligen errichteten sie mehrere gewaltige Grabhügel aus Zehntausenden übereinander gestapelter Testuden. Immer neue Schichten der reglosen Silitfresser drücken auf einander. Man hat sich nicht entschließen können, die unheimlichen Gäste aus dem All in der Erde zu verbuddeln. Es könnte ja sein, dass sie immer noch Leben in sich bergen. Kleinere Gruppen von ihnen hatten gezielt die letzten Gebäude aus Silit im Berliner Umland angesteuert. Nachdem die verzehrt waren, waren dann aber auch die letzten erstarrt ...・
Es war Freitag. Auf Jens・L Programm stand die abschließende Inspektionsfahrt zu diesen Grabhügeln. Ich bat ihn, mitkommen zu dürfen. Überrascht stimmte er zu. Jule erklärte, sie könne nicht mitkommen. „・c Es muss sich doch jemand um die Kleinen kümmern.・ Dabei lächelte sie viel sagend.
Ich sprang pfeifend auf den Beifahrersitz.
An den Inspektionspunkten stieg ich mit aus. Jens stellte mich meist als seine Adoptivtochter vor. War das ein Vorbeimarsch! Ich hatte mich extra aufgemotzt, trug ein kurzes weißes Kleid mit angesetztem weiten Rock. Das betonte meine gebräunte Haut. Jens konnte nur schwer verbergen, wie ihm das gefiel ・ und wie ihn die zweideutigen Komplimente der vielen Männer aufregten. Hätte er gehört, was ich vorher zu Jule gesagt hatte, wäre er wohl zurückhaltender gewesen. „In mancher Hinsicht sind Männer wie Computer. Man muss nur die richtigen Buttons kennen, schon läuft das gewünschte Programm ab. Selbst bei so einem Vatertyp, bei dem man sich geborgen fühlen kann, und nicht erwartet, dass irgendwas abgeht.・ Aber er ahnte nichts.
Die Tour war geschafft. Da möchte ich nichts drüber sagen. Ich hätte schreien mögen vor hilfloser Wut. Aber eben absolut hilfloser. Die einzelnen Wesen sahen aus wie Schildkröten aus Metall ・ zu hohen Bergen aufgehäuft - und nur ihre Regungslosigkeit bremste mich. Ich wollte Jens nicht auf die Idee bringen, mich könnte der Schrottberg interessieren.
Jens war längst auf die Bundesstraße abgebogen, die von Berlin nach Sternekop führte, da sagte ich so unverfänglich wie möglich: „Mann, ist das ne Hitze. Also am liebsten würd ich mal kurz in ・Ln See hüpfen. Da drüben gibt・Ls doch ne ganz versteckte Badestelle.・ Früher hätte Jens geantwortet, dass wir in zwanzig Minuten sowieso zu Hause wären und dann ungestört baden könnten. Diesmal aber ・c Er hatte andauernd zu mir rüber geschielt, und jetzt brannte er wohl auf den Moment, an dem ich mein Kleid abstreifen würde.
Er sah mir etwas enttäuscht hinterher. Der Strip hatte kaum eine Sekunde gedauert. Ein kurzes Vorbeugen, Griff nach unten, hoch ・c und schon lief ich nackt in den See. Spontan entschied er, nach diesem heißen Tag selbst einmal woanders zu baden als im Quadder oder in der Wanne. Er zog sich aus und rannte hinterher. Ich kam vor ihm wieder aus dem Wasser, aber ich war noch nass, da kam er schon zurück.
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Im Wagen danach schwieg Jens die akustische Steuerung an. Ich sah ihn fragend an. „Du bereust es. Eigentlich hast du das nicht gewollt.・
Er spürte meinen Blick. Schwieg.
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Er fuhr nicht los. Inzwischen hätte er ein Bad wohl nötiger gehabt als vorher. Der Schweiß malte eine Fleckenlandschaft auf seinem Hemd.
Vorsichtig begann ich mit meiner Beichte: „Das kommt nun mal vor, dass man etwas tut, was man gut gemeint hat, und dann gerät alles außer Kontrolle ・c Weißt du, der Knatsch mit Berlin in den vergangenen Wochen, das war meine Schuld. Ich hab ・c also manchmal haben die anderen Mädchen mir geholfen, aber dafür dürfen sie auf keinen Fall bestraft werden ・c also ・c die Kugel, die sich dein Kollege hat klauen lassen ・c・ Immer wieder unterbrach ich mich. Jens wartete. Mehrmals sah es aus, als wollte er etwas sagen. Immer, wenn ich dann eine Pause machte, schwieg er weiter.
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Jens hörte zu, den Kopf ein wenig gesenkt wie ein Junge, der ne Strafpredigt anhört, aber irgendwie auf dem Sprung. Ein Kater, der vielleicht gleich seine Krallen ausfahren würde. Ich erzählte jetzt ohne Zögern, lächelte gelegentlich zwischendurch.
„…
„…
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Endlich fuhr Jens los. Trotz des Autopiloten starrte er konzentriert auf die Straße. Bis zum Grundstück sagte keiner ein Wort. Plötzlich knurrte Jens: „Na, und was ist, wenn mir auch nichts einfällt?・
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Ich zog die Tür hinter mir zu, fiel Jule um den Hals, sagte „Ich bin also nicht lesbisch.・
Die lachte: „Was hab ich gesagt ・c・
Ängste und Wachen
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Jens hätte bei meiner Bemerkung stutzig werden müssen. Sie entsprach einfach nicht meinem Wesen. Aber er war noch erleichtert, dass seine Affäre folgenlos geblieben war, da plauderte er achtlos weiter: „Weißt du, ich bin richtig überrascht, dass unsere beiden Zwillingspaare überhaupt nicht in ihrem Eifer nachlassen. So ausdauernd waren sie früher nicht. Dabei hat sich während der ganzen Zeit, in der wir hier in unserem Labor herumexperimentieren, nichts verändert・c・
Ich wich seinem Blick aus. Mit gespielter Leichtigkeit versuchte ich abzuwiegeln. „Freu dich doch! Das ist bestimmt der positive Einfluss der Kristalle. Außerdem habe ich dir erklärt, dass da die Schildkröten rausgeschlüpft sind, als ganz kleine, verstehst du・c・
„
Ich drohte ihm spielerisch mit der Faust. „Es ist überhaupt nicht gut, wenn jeder immer alles weiß・c・ Mehr sagte ich nicht.
Am folgenden Dienstag kam Jens total ausgekratzt von der Arbeit. „Heut war was los. Alarm. In der letzten Nacht sollen sich angeblich die steifen Testuden kurzzeitig bewegt haben. Es hat sie zwar keiner dabei beobachtet, aber die Haufen haben sich irgendwie verändert. So, als wären alle kurz losgelaufen, ungefähr Richtung Eberswalde, dann aber hätte etwas ihren Aufbruch unterbrochen. Jedenfalls als wir alarmiert wurden, regte sich nichts mehr. Alle Berliner Polizeidienststellen waren die ganze Zeit in Bereitschaft. Reicht・Ls nicht, irgendwelche arbeitslosen Soldaten dort rumstehen zu lassen?・
Jens sagte das verdächtig beiläufig. Was blieb mir übrig, als auf seinen Ton einzugehen und möglichst wenig interessiert nachzufragen, so, als sagte ich das nur, um ihm einen Gefallen zu tun: „Das ist natürlich dumm, wenn keiner etwas mitbekommen hat. Aber heute stehen dort ja die ganze Zeit Wachen ・c・
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Ich tat weiter gelangweilt: „Ach, nur so ・c・
Ich merkte sofort, dass das überhaupt nicht nur so geklungen hatte. Jens・L Misstrauen war geweckt. Aber etwas musste ich ihn noch hinhalten. So empfing ich ihn am nächsten Abend mit: „Na, war wieder was mit den Schildkröten?・
Jens hatte sich wohl vorgenommen, mich zu ärgern. „Vielleicht. Ich hab nicht weiter drauf geachtet.・
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Offen anlügen wollte ich ihn nicht. Außerdem hätte er es sowieso bald erfahren. „Nicht direkt. Aber um diese Zeit hab ich ihren Mutterkristall gefüttert ・c・
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Plötzlich rannte Jens mit den Worten „Warte. Ich bin gleich wieder da!・ hoch ins Haus. Tatsächlich kam er gleich mit Sonja und Janine zurück. „Marie, sag noch mal, was du beobachtet hast!・ Ich tat es mit knappen Worten.
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Schließlich fragte ich: „Und die besondere Wirkung der Kugeln auf Insekten? Etwas muss die so antörnen, dass sie ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, um an die Kristalle zu kommen.・
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Leo hatte auf ihre Bluse gekleckert. Schnell winkelte sie den Arm an, damit der Fleck nicht zu sehen war. Dann sah sie sich suchend um, ob das jemand bemerkt hatte. Ich zwinkerte ihr zu. Es hatte niemand bemerkt.
Bei Sonja ging gerade die Lehrerin durch: „Schon möglich. Aber wir sollten mit Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Was wissen wir zum Beispiel von geheimen militärischen Forschungen? Egal ob aktuellen oder von früher? Könnte nicht einer von denen, die Näswerder in den vergangenen Jahrhunderten heimgesucht haben, an einer Waffe herumexperimentiert haben, ohne fertig zu werden? Die Nazis, später die Sowjets, ja zwischendurch waren da sogar schon mal die Amerikaner als Besatzer, die sich erst vor den Russen und dann vor uns zurückziehen mussten.・ Sie sah beim Sprechen manchmal runter zur Buschtanne oder wie der Baum hieß. Ob sie ahnte, dass man von dort aus gut den Terrassentisch beobachten konnte? Diesmal saß ich ja aber mit dran. Schließlich ruhte Sonjas Blick auf Jens, von dem sie offenbar Zustimmung erwartete.
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Janine lächelte. Sie hatte Jens eine Hand auf die Schultern gelegt, und es sah so aus, als bemerkte sie die anderen im Raum nicht mehr. „Das ist aber das einzige, wobei sie sich bewährt haben. Alle anderen Varianten ・c Ich will ja Sonjas Optimismus nicht zu nahe treten ・c sind ziemlich daneben. Und vielleicht ist für die da draußen Leben ganz was Anderes als für uns? Vielleicht sind wir denen so was wie Unkraut?・
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Jens lehnte sich etwas zurück. Er beobachtete mich, seit ich mich aus der Diskussion ausgeklinkt hatte, schließlich fragte er mich direkt: „Sag, Marie, was hältst du von der ganzen Sache? Du hast doch eine Vermutung?・
Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. Alle drehten sich plötzlich zu mir hin. „Ich weiß nicht. Logisch ist es nicht: Wieso sollte ein Röntgenstern mehrere Keime hierher schicken? Unterschiedliches, aber zusammen passendes Leben? Zu uns, an einen weit entfernten Punkt des Weltalls? Und wie? Die Kugeln sehen ja schon so verdächtig unnatürlich aus. Die hat doch jemand mit Absicht so spiegelblank geschliffen. Warum fragt ihr trotzdem nicht, wer sie geschickt hat? Was für eine fremde Intelligenz soll der Absender sein? Sind die Fragen denn nicht zwangsläufig?・ Mit vorwurfsvollem Gesicht sah ich einen nach dem anderen an. „Weil das unweigerlich unangenehme Antworten hervor gekitzelt hätte. Die Berliner Katastrophe schließt doch von vornherein aus, dass uns dieser Absender dann wohl gesonnen ist. Wollen die Fremden uns also vernichten? Wirklich Terraforming treiben? Aber warum jetzt? Was hängt hier womit zusammen? Ein Röntgenstern. Warum denn? Dort würden sie doch ständig bestrahlt, nicht bloß kurz.・ Ich redete immer erregter weiter. „Ich glaube, die Röntgenbestrahlung spielt schon eine Rolle. Aber eine andere. Vielleicht ein Test. Ob wir hoch genug entwickelt sind für einen Kontakt. Dass wir etwas durchleuchten können, um es zu untersuchen, als ein Indiz dafür. Angenommen, eine fremde Intelligenz suchte ihresgleichen. Sie verschickte etwas in alle Richtungen. Es kam auch auf der Erde an. Millionen Jahre ruht das hier irgendwo. Erst nach einer künstlichen Bestrahlung sendet es ein Signal zurück.・
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Plötzlich brach mein Redestrom ab. Als hätte mir eine fremde Kraft Worte in den Mund gelegt, und nun wusste sie nicht weiter. Irgendwie verstimmt sagten auch die anderen nichts mehr.
Später wartete ich ab, bis ich Jens unter vier Augen sprechen konnte. „Petra hat・Ls leichter. Bei ihr sind umfangreiche Forschungsreihen möglich. Uns fehlen die einfachsten Geräte! Was sollten wir auch mit einem Röntgenapparat? Einmal eine Kugel durchleuchten? Hast du nicht irgendwelche Beziehungen, um das heimlich irgendwo draußen zu machen und zwar für mehrere Stunden? Wir müssen einfach testen, ob dann etwas anderes rauskommt. Vielleicht versuchen die Kugeln auch, uns vor Fehlern zu bewahren, wir haben ihre Gefühlswellen nur bisher immer so egoistisch gedeutet, wie wir denken würden.・
Jens war zwar etwas misstrauisch, aber ich überzeugte ihn: „Wenn die Kugeln aus der Umgebung eines Röntgensterns stammen, dann brauchen ihre Keime längere Bestrahlung, um sich in ihrer natürlichen Weise zu entwickeln. Wir werden sonst nie erfahren, was aus ihnen eigentlich werden sollte. Bestimmt was anderes als diese Sikroben. Ich kann mir sogar vorstellen, dass jemand auch diesen Gedankengang erwartet, wenn er unsere Intelligenz testen will.・
Gemeinsam nutzten wir eine ganze Nacht das Bestrahlungsgerät einer Röntgenpraxis. Sorgfältig abgeschirmt schmuggelte Jens die Kristalle ein. Es passiert absolut nichts Bemerkenswertes. Erleichtert, aber auch enttäuscht zugleich schafften wir die Kristalle am nächsten Vormittag wieder ins Gartenlabor. „Vielleicht reift jetzt die Entscheidung heran.・ Unsicher sah mich Jens dabei an.
Ich aber nickte nur. „Bestimmt!・
Wir stellten einen Betreuungsplan auf. Auf mein Drängen hin wurden auch die Klonies eingeplant. Jens kam das am Anfang so absurd vor, dass er gar nicht darüber diskutieren wollte. „Wir waren uns doch einig, dass den Kleinen der Umgang mit den Sikroben untersagt ist.・
Ich verzog nur mein Gesicht. „Sie sollen ja nichts mit den Sikroben anstellen, sondern nur die Kristalle bewachen.・
Aber dann passierte etwas Unerklärliches. Obwohl das irgendwie zu erwarten gewesen wäre, gab es keine Diskussion. Im Gegenteil. Jens schwenkte wie alle anderen ohne ein vernünftiges Argument auf meine Position um.
Ich besorgte einen Sensor. Die Wachhabenden bekamen ihn ums Handgelenk gebunden. Es gäbe Alarm beim Druck auf den roten Knopf, aber auch, wenn die Wache einschliefe oder das Armband abnähme oder nicht alle Viertelstunden den grünen Knopf drückte. Bis auf Jens, der ja tagsüber aufs Revier fuhr, hatte jeder jeweils drei Stunden Wache. Leonie als das jüngste Zwillingskind beschwerte sich. Warum würden die Kinder denn nur an den Nachmittagen eingesetzt? Jens gab ihr schließlich die Schicht von drei bis sechs Uhr morgens. Wie stolz sie danach rumlief! Eine Schicht für Erwachsene!
Jens blinzelte Janine zu: Das würde sich bald geben.
Ich riet den Zwillingen: „Am besten, ihr lest den Kristallen während der Wache etwas vor. Das gefällt ihnen bestimmt.・
Jens weihte ich dann unter vier Augen ein. „So wird es weniger eintönig für sie, und Üben schadet doch nicht, oder?・
Er lächelte. Hatte schon einen neuen Wachplan, sobald eins der Mädchen einschlafen sollte oder anders seine Wache verpatzte. Als ich ihn direkt danach fragte, antwortete er: „Wenn du es nicht weitersagst: Ich möchte darüber nicht nachdenken. Wenn ich mich nach meiner Wachschicht schlafen lege, verfolgt mich so eine nicht greifbare Traurigkeit. Ja, ich liebe diese Mädchen. Irgendwie, so ein ganz kleines bisschen sind es aber eben nicht meine Kinder, sondern die von denen da.・ Dabei deutete er mit den Händen zum Himmel. „Ich will sie trotzdem behalten.・ Er sah mich dabei so an, so ・c als wollte er danke sagen und es ging nicht. „Weißt du, was mich dabei wundert? Meine Albträume sind nicht wiedergekommen. Du weißt schon, die mit der Geburt und so.・
Ich lehnte mich an ihn an, legte meinen Arm auf seine Schulter und schwieg. Auch Jens sagte nichts mehr. Diese Stille tat ihm gut.
Die Unersättlichkeit der Sikroben wurde langsam zum Problem. Was die Klonies für Phantasie bei der Futtersuche entwickelten! Sina und die anderen zogen in den Wald und suchten Kiefernzapfen. Trotzdem ・c Jens hörte von einem Bauern aus dem Nachbardorf, der seinen baufälligen Stall abreißen wollte. Der sparte gern die Entsorgungskosten und schüttete die Steine ans hintere Ende unseres Grundstücks. Zwar war das Gestein den Sikroben zu einseitig als Nahrung, aber als die Klonies ihre üblichen Kleinigkeiten zufütterten, sprudelte es wieder im Behälter. Während der gesamten Zeit vergaßen Sina und Leonie nie, Wasser in die Tröge zu schütten. Es war, als empfingen sie Kommandos von den Kristallen, die sie roboterartig ausführten.
In der vierten Woche der Intensivbetreuung fielen erste Veränderungen auf. Nicht beim Mutterkristall der Testuden. Der hatte auch immer nur eine minimale Menge an Tropfen gefressen. Die beiden normalen Kristalle dagegen schwollen merklich an. Jule erklärte den aufgeregten Zwillingen: „Bald sind die so groß wie die in Afrika. Das heißt, bald wird hier dasselbe passieren wie damals dort. Wir müssen jetzt besonders gut aufpassen, dass sie uns nicht einfach entfliehen.・
Mühsam überwand Jens das Bedürfnis, sich die Ohren zu zu halten.
Die letzten schlafenden Hunde sind geweckt
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Jens folgte Sina und mir. Nach höchstens drei Minuten standen auch Janine, Sonja, Jule und die restlichen Klonies mit angehaltenem Atem im Labor. Jens rief noch: „Macht alles dicht!・, dann starrte er gebannt auf den Kristall, der besonders lange der Röntgennacht ausgesetzt gewesen war. An der am meisten gerundeten Seite hatte sich eine erste spitze Beule gebildet. Dann immer mehr, so als wüchsen dem Kristall Stacheln wie einem Igel. Die wiesen anfangs pfeilartig in alle Richtungen. Bald verdickten sie an den Spitzen zu Minikristallen.
Die Haut des Mutterkristalls zog sich zusammen. Endlich ein stumpfes „Back!・ Was sich da gelöst hatte sah aus wie ein winziger länglicher Luftballon mit einem dem Kristall zugewandten zugebundenen Mundstück. Es war etwa drei Zentimeter lang und einen halben dick. Immer neue solcher Ballons drängten aus dem Kristall hervor. Endlose Sekunden schwebten sie abwartend in der Luft. Als ob sie die Menschen ringsum beobachteten.
Dann veränderte der erste langsam seine Gestalt. Er ähnelte nun einem Saugrohr. Im Tageslicht glitzerte er wie eine Seifenblase. Plötzlich zischte er und schoss ruckartig nach vorn. Erst prallte er an den Medizinschrank, dann an die Fensterscheibe. Seifenblasen hätten dabei keine Geräusche verursacht. Sie wären einfach zerplatzt. Dieses Etwas hämmerte auf das Glas, dass es knackte. Beim nächsten Mal näherte es sich der Scheibe vorsichtiger. Mit seiner breiten Seite klopfte es kräftig, wenn auch vergeblich gegen das Glas. Inzwischen schwebten mehrere Hundert seiner Brüder oder Schwestern reglos im Raum. Es sah so aus, als warteten sie die Untersuchungsergebnisse ihres ersten ab. Dann richteten sie sich alle pfeilartig in Richtung Fensterscheibe aus. Wie auf Kommando zischte es und Hunderte von ihnen ・ wir gaben ihnen später den Namen Aerobolde - jagten fast gleichzeitig auf das Fenster zu. Es knirschte zwar verdächtig, aber die Scheibe blieb ganz. Ich lauschte. Verständigten sich die fliegenden Kristallwesen fiepend miteinander? „Passt auf! Die senden Signale! Das nächste Mal schlagen sie zusammen das Fenster ein.・
Keiner reagierte. Da sprang ich zur Tür. Kaum war sie offen, sauste der Schwarm nach draußen. Etwa einen Meter weit in Freiheit drehte er ruckartig um und schwirrte kurz wieder ins Labor auf die Klonies zu. Ganz leise murmelte ich traurig: „Jetzt nehmen sie sie mit!・
Erneut bildeten die Aerobolde eine Formation von Pfeilen, die nun auf die vier Klonies gerichtet waren. Ein ohrenbetäubendes Fiepen ・c und ・ als hätten sie es sich anders überlegt ・ entschwanden sie ohne weitere Verzögerung nach draußen.
Inzwischen hatte derselbe Geburtsvorgang bei dem anderen Kristall begonnen. Hier entstanden von Anfang an weniger, dafür größere und abgerundetere Beulen. Auch die fliegenden Kristallkinder waren größer und ähnelten eher normalen Luftballons. Keiner machte die Tür wieder zu. Alle beobachteten, wie sich auch die nächsten Aerobolde in eine unbekannte Freiheit entfernten. Jens hatte Sina und Jule zur Seite gedrängt, um den ausfliegenden Wesen einen breiten Weg zu lassen.
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Janine bemühte sich, ihrer Erregung Herr zu werden. Was eignete sich besser dazu als die eintrainierten Handgriffe, mit denen sie das Abendbrot vorbereitete. Wie auf Verabredung bot ihr niemand Hilfe an. Dann hätte sie mit den Gedanken dabei sein müssen. So aber arbeitete sie allein, wie eine Maschine, für die eigentlich alles normal weiterging. Janine hörte nicht darauf, ob jemand etwas sagte. Aber wir schwiegen sowieso.
Ich wachte scheinbar aus einem Halbschlaf auf, als das Tablett in der Tür auftauchte. Ich verteilte Besteck, Geschirr. Während Sonja den Wurstteller anstierte, als kröchen ihr von dort erste Maden entgegen, murmelte sie: „Warten wir also ab, ob wir wieder eine Plage auf die Menschheit losgelassen haben oder ob unser Experiment diesmal besser ausgeht.・
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Leonie sagte trotzig: „Aber wir haben noch den Mutterkristall.・
Doch Janine sah sie nur vorwurfsvoll an: „Erinnere mich nur nicht daran! Am liebsten würde ich den noch heute Abend so tief verbuddeln wie möglich.・
Appetit hatte keiner. Niemand achtete auf mich. Plötzlich schlug ich mit der Faust auf den Tisch. „Das ist ja nich mit anzuhören. So, wie ihr euch hängen lasst, hättet ihr wirklich verdient, wenn alles aus wäre. Aber ich sage euch eins: Die kommen zurück und dann geht alles erst richtig los!・
Einen Moment war es absolut still. Dann redeten alle durcheinander auf mich ein. ・c wie ich denn darauf komme?
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Ich konnte einfach nichts erklären. Mit im wahrsten Sinne gemischten Gefühlen versuchten alle an diesem Abend einzuschlafen.
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Lange blieb ich still. „Angst? Nein. Angst nicht.・
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Reichtum auf Erden
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Jens verließ das Grundstück jeden Morgen. In Berlin und Eberswalde machte er sich mit Überstunden müde. Wenn er nach Hause kam, wollte er nur noch ausruhen. Er ließ sich berichten, was passiert war, obwohl er die niederschmetternde Antwort an den Gesichtern ablesen konnte. Aber es erleichterte uns alle, einmal laut klagen zu können. In den ersten zwei Tagen warteten alle noch voll Spannung auf das, was ich so vorschnell angekündigt hatte. Nichts geschah. Immer öfter lief ich mit einem Ich weiß es doch auch nicht im Gesicht herum. Langsam verdrängte Enttäuschung die Erwartung. Angenommen, ・c Ja, was sollten wir eigentlich annehmen? Unruhig verfolgte ich alle Nachrichten auf den Bildschirmen, überflog täglich die Zeitungen der Umgebung. Nirgendwo der geringste Hinweis auf den Aeroboldenschwarm. Wir hatten offenbar doch keine neue Plage auf die Menschheit losgelassen. Andererseits hätte ich doch gern gewusst, wo die fliegenden Fremdlinge hin waren. In Polizeiberichten stand auch nichts Merkwürdiges.
Die Klonies interessierten sich plötzlich für gar nichts mehr. Janine konnte sagen, was sie wollte. Oder Sonja. Den Müttern schien das auch nicht recht. Wie drückte sich Jens aus: „Freut euch doch! Sie haben mal einen schlechten Tag wie jedes normale Kind in dem Alter. Sie reagieren eben nicht wie auf lieb programmiert. Warum passt euch das jetzt auch nicht? Seid doch zufrieden.・
Sonja nahm Jule und mich nicht mehr alle Tage von der Schule mit nach draußen, das heißt, wir schliefen nun gelegentlich wieder in Eberswalde. Neun Tage ging das so. Ausgerechnet als es richtig losging, hingen wir dort in der Bierakademie rum.
Am jenem Montagabend nach einem wenig anregenden Fernsehprogramm beschlossen Jens und Janine, sich noch einen Moment in den Garten zu setzen. Lust aufeinander hatten sie keine, erzählen wollten sie sich auch nichts, zum Schlafen war es noch zu früh. Wenigstens hatte es sich nach dem quälend heißen Tag allmählich abgekühlt, im Garten war es schon angenehm. Jens hatte Janine ein paar Minuten die Schultern massiert. Dann hatte er sich mit gespieltem Gähnen in seinen Liegestuhl fallen lassen. Beide lehnten sich einen Moment zurück. Aus dem Zelt drang Geschrei. Sina brüllte „Du blöde Popp-Ziege ・c・ Jens sah zu Janine. Die guckte fragend zurück. Unsicher schüttelte Jens mit dem Kopf. Janine zuckte mit den Schultern. Beide lehnten sich wieder zurück. Tatsächlich waren die Zwillinge wieder verstummt.
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Jens warf Janine einen irritierten Blick zu.
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Jens wagte nicht, Janine zu unterbrechen.
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Die Aerobolde flogen dicht über die Köpfe der beiden Menschen hinweg auf das Labor zu. An der Außenwand landeten sie. Das Pfeifen setzte fast schlagartig aus. Für einen Moment waren keine Grillen und keine Kröten zu hören. Absolute Stille. Allmählich setzte die Abendsymphonie wieder ein. Jens lief hoch zum Haus. Kam mit einer Taschenlampe zurück.
Mit den Händen bedeutete er Janine, sich hinter ihm zu halten. Vorsichtig schlich er sich an das Gartenlabor, wo zuvor die letzten Fluggeräusche der Aerobolde zu hören gewesen waren. Nichts regte sich. Die Außenwand des Gartenlabors war von mehreren undefinierbaren Stapeln verdeckt. Jens schaltete die Lampe an, ließ den Lichtkegel kreisen ・c noch immer nichts.
In einem der Stapel glaubte Jens die gelandeten Aerobolde zu erkennen. Sie waren auf ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Größe angewachsen, erinnerten irgendwie an fliegende Blöcke, wie man sie aus alten Schatzkammern kannte ・ von der Form, aber auch von der Größe. Nur wenig ähnelten sie noch den kleinen leichten Luftballons. Eher sah die Formation, die sie gerade bildeten, aus wie übereinander aufgeschichtete Reihen von Mauersteinen. Aber da waren Unmengen an Mauern nebeneinander aufgebaut. Woraus bestanden die anderen Stapel?
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Janine versuchte, einen der aufgeschichteten Klötze anzuheben. Er fühlte sich metallisch an. Zwar machte keiner der Aerobolde Anstalten, sie zu hindern. Trotzdem gelang es ihr nicht, den Barren von etwa einem halben Liter Volumen anzuheben. Zumindest mit einer Hand. Jens griff nach einem der glänzenden anderen. Durch Janines Erfahrung vorgewarnt hob er ihn vorsichtig mit beiden Händen an und hievte ihn mühsam ins Labor. Seine Finger zitterten. Das war doch nicht etwa ・c
Niemand hielt ihn zurück. Er wurde sicherer. Er wog den Barren, bestimmte sein Volumen im Wasserbad, errechnete die Dichte. 19,3 Gramm je Kubikzentimeter. Das kam ihm irgendwie bekannt vor. Mit einer Pipette tropfte er ein wenig Salzsäure auf den Barren. Nichts. Jens drehte sich zu Janine um. „Eigentlich kenne ich nur einen Stoff, der so reagiert, also nicht reagiert. Ich will・Ls nicht beschwören, aber das könnte Gold sein und zwar fast reines.・ Er blätterte im alten „Chemieführer・, der abgegriffen an der Laborwand lehnte. „Tatsächlich! Nur Wolfram hätte eine ähnliche Dichte. Das sieht aber weiß aus, glaube ich. Einen einfachen Test haben wir noch. Gold ist ja angeblich besonders weich. Das prüfen wir morgen. Na, mal sehen, woraus die anderen Barren sind.・
Am nächsten Morgen waren die Aerobolde verschwunden. In den Sikroben-Bottichen hatten sie nur winzige Tropfenreste übrig gelassen. Jens stellte fest, dass sie insgesamt zehn verschiedene Substanzen an der Labormauer aufgestapelt hatten. Seiner Meinung nach bestand ein Stapel aus Goldbarren, und je einer aus Nickel, Kupfer und Aluminium. „Der Rest? Keine Ahnung. Metall jedenfalls. Es wäre ganz gut, wenn ihr mir helft, geeignete Tests herauszufinden.・
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Der drehte sich zu ihnen um. „Wenn das alles uns gehörte, wären wir wohl eine der reichsten Familien der Welt. Aber das tut es nicht. Wir müssen nachher überlegen, was wir machen wollen. Wahrscheinlich gar nichts. Jetzt geht・Ls aber erst einmal ab zur Schule! Und zwar flott! Nicht dass ihr zu spät kommt und als Entschuldigung herumerzählt, ihr musstet noch Goldbarren zählen ・c Dann ist gleich eure Lehrerin da.・ Jens lachte.
Jens hatte Sonja angerufen, und Sonja benachrichtigte Jule und mich. Wir luden allen Müll, den wir fanden, ins E-Car und fuhren von Eberswalde nach Sternekop. Irgendwie mussten die Bottiche wieder voll werden.
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Die anderen lachten. Ätzer, unsere Freunde ・c einfach komisch ・ aber keiner widersprach. Sie waren schließlich die Nahrung der Aerobolde.
Je später der Abend wurde, umso zähflüssiger flossen die Gespräche. Eigentlich lauschten alle nur auf den Schwarm. Doch nichts geschah. Sonja, ihre Zwillinge, Jule und ich ・c wir bezogen unsere Gästebetten. Nach vier Stunden Schlaf machten wir uns widerwillig zum Arbeits- bzw. Schulalltag auf. In Gedanken blieben wir in Sternekop. Ob die Aerobolde an diesem Abend wiederkämen?
Mit der nächsten Dämmerung lag endlich ein verdächtiges Geräusch in der Luft, und dann tauchte die Flotte auf. Die Aerobolde stapelten immer neue Barren. Fast andächtig beobachteten wir sie dabei. Verstanden nichts. Ich nahm an, dass die Aerobolde irgendein Feld bildeten. Ein Magnetfeld konnte es wohl nicht sein. Das hätte nicht auf alle Metalle gewirkt. Außerdem mussten sie es umformen, also verändern können, denn sie hielten ihre Barren wie mit unsichtbaren Stricken an ihrer Bauchseite, setzten sie vorsichtig ab und flogen wieder los, wenn sie gefressen hatten.
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Die Aerobolde flogen wieder ab. Wir sahen ihnen noch nach, als sie schon am Horizont verschwunden waren. Das war alles? Aber bis zum Morgen geschah nichts mehr.
Es war schon hell, als Janine uns weckte. Gemeinsam inspizierten wir die Ergebnisse des spätabendlichen Besuchs. War das ein Bild! So musste sich wohl das Bauernmädchen aus dem Märchen gefühlt haben, dessen Stroh zu Gold gesponnen worden war. Batzenweise Gold und andere seltene Metalle!
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Janine versuchte Jens beizuspringen: „Meint ihr wirklich, die Kristalle haben diesen Schatz unseretwegen hierher gebracht? Der ist doch genauso unbegreiflich wie vorher die Sikroben.・
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Wir anderen folgten ihm. In der Küche schwiegen wir ihn an. Mechanisch holte Janine eine Packung Knusperflocken und drei Milchpacks aus dem Regal und verteilte die Teller. Es war schließlich Frühstückszeit, und Janine war wieder einmal froh, etwas in den Händen zu haben, mit dem sie sich ablenken konnte. Alle ließen es sich gefallen; wir nahmen Löffel in die Hände ・ und fingen doch nicht an zu essen. Plötzlich ließ Julia ihren Löffel in die Milch fallen. „Ich versteh das nicht. Wie oft habe ich mir erträumt, reich zu sein. Ich habe mir genau überlegt, was ich dann als erstes mache, was erst später, wen ich beschenke und wen ich zum Teufel jage ・c aber das hier habe ich nicht erwartet. Diesen Kreis von lauter reich gewordenen Miesepetern. Dass da nicht die Milch sauer wird! Warum freut ihr euch nicht einfach?・
Ich sah nicht von meinem Teller auf. „Jule, ob dus glaubst oder nicht: Ich freu mich. Ich freu mich, hier dabei zu sein. Aber hast du dich schon einmal gefragt, was passiert, wenn die das für sich brauchen und wir haben es ihnen weggenommen? Dass wir keinen Kontakt bekommen, ist das eine. Also ich an deren Stelle, ich würde meinen, Menschen sind was Schlimmes für die Galaxis. Die gehören ausgelöscht. Stimmt doch, oder? Meins, meins, immer nur meins! Dabei wär es doch großartig, sich mal mit Wesen aus fernen Welten verständigen zu können.・
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Jule stand auf, beugte sich vor, sah mich vorwurfsvoll an, stützte beide Hände rechts und links von ihrem Teller ab. „Also ich versteh dich nicht. Mit dem Zeug da können wir so viel Gutes vollbringen. Wir haben eine Chance, die hat sonst keiner. Und hast du nicht Botschaften von den Kristallen bekommen, wenn du was richtig oder falsch gemacht hast? Haben wir das nicht beide? Warum jetzt nicht? Oder ist das die Botschaft? Mit unserem albernen Gartenlabor werden wir ja wohl keine galaktischen Kontakte herstellen. Aber mit dem, was wir uns mit dem da erschaffen könnten, schon.・
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Etwas überraschend für mich sprang ihr auch Sonja bei. „Ich habe immer versucht, aus euch gute Menschen zu machen. In der Schule ist das alles nur sehr theoretisch. Aber jetzt haben wir die Gelegenheit, in der Welt, wie sie wirklich ist, etwas durchzusetzen. Wenn wir nicht bald ein Zeichen von diesen Wesen bekommen, sollten wir diesen Reichtum dafür nutzen. Ein Batzen Germanium ist wertvoller als eine Geschichtsstunde über die Stammesversammlung der Germanen.・ Ihren Teller ignorierte sie natürlich auch.
Allein Jens löffelte in seiner Milch herum. Schließlich murmelte er: „Ich glaube auch, in dem Ganzen liegt ein Programm, wir haben es nur nicht verstanden. Oder es ist kaputt. Unvollständig. Es ist noch nicht zu erkennen, wo es hinführt ・c ob es überhaupt irgendwo hinführt. Aber wir lassen es ja auch nicht.・
Janine und Sonja sahen einander fragend an. Da sprudelte es aus Janine: „Muss ich dich jetzt begreifen? Manchmal ist es wohl besser, nicht alles zu verstehen. Da nimmt man einfach seine Barren und ist reich.・
Ich lächelte. Wenigstens Jens hatte mich also verstanden.
In den folgenden vier Wochen tauchten die Aerobolde in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf, luden neue, unterschiedliche Substanzen ab und verschwanden wieder. Jens verbarg jeweils einen Musterbarren im Keller, ohne dass die Aerobolde darauf reagiert hätten. An der linken Seite des Grundstücks, dort wo es eigentlich keinen Nachbarn hatte, wuchsen immer neue Stapel. Wenn das noch lange so weiterginge, hätten sie irgendwann den ganzen Garten in einen zwei Meter hohen Wall von Metallen verwandelt. Aber mir war klar, das würde nicht mehr lange so weitergehen.
Jens?・
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